Islam-Experte Lüders: Libyen wird ein «schwarzes Loch»

Der Islamwissenschaftler und Politologe Michael Lüders rechnet nach dem Fall der nordlibyschen Stadt Sirte mit vielen weiteren Flüchtlingen. «Libyen wird mehr und mehr ein schwarzes Loch in Nordafrika, eine Hochburg des 'Islamischen Staates' und anderer radikaler Islamisten - und natürlich auch ein Sprungbrett für sehr viele Flüchtlinge in Richtung Europa», sagte Lüders dem Sender «Deutsche Welle» (Montag).

Libyen sei mittlerweile als «gescheiterter Staat» zu betrachten. Es gebe keine funktionierenden staatlichen Institutionen mehr und keine Zentralgewalt, die in der Lage wäre, den einen Machtanspruch im ganzen Land durchzusetzen, sagte Lüders, der auch stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Orient-Stiftung ist. Die unklaren Machtverhältnisse und wechselnden Allianzen erschwerten zudem ein Eingreifen von außen.

Skeptisch äußerte sich der Islamwissenschaftler auch zum Plan der international anerkannten Regierung in Tobruk, die Arabische Liga könne mit Luftangriffen in Sirte den Vormarsch der Islamisten-Miliz stoppen. Selbst wenn die Arabische Liga einwillige, werde es «nicht gelingen, das Chaos so zu sortieren».

Die Vorstellung, man könne militärisch Probleme lösen, sei «wahrscheinlich eine Illusion», sagte Lüders. Wenn der Staat zerfallen sei, dauere es lange, bis neue Strukturen aufgebaut werden könnten. «Das gelingt wahrscheinlich erst dann, wenn die kriegstreibenden Kräfte weitgehend ausgeblutet sind. Dieser Krieg in Libyen wird sich noch längere Zeit fortsetzen», sagte Lüders.

Die Arabische Liga befasst sich an diesem Dienstag bei einer außerordentlichen Sitzung womöglich mit der Bitte der international anerkannten libyschen Regierung, mit Luftangriffen im nordlibyschen Sirte den Vormarsch der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) zu stoppen. An dem Treffen am Dienstag in Kairo nähmen die ständigen Delgierten der Arabischen Liga teil, sagte der jordanische Botschafter bei der Liga, Bischer Chasawneh, am Sonntag. Es war unklar, ob ihnen eine offizielle Bitte Libyens um ein militärisches Einschreiten vorlag.

Am Samstag hatte Libyens international anerkannte Regierung die Mitglieder der Arabischen Liga in einem offiziellen Ersuchen gebeten, "Maßnahmen" zu ergreifen, um dem Vorrücken des IS in Libyen zu begegnen. In der Nacht zum Sonntag rief die Regierung die "arabischen Bruderstaaten" schließlich öffentlich auf, "gezielte Luftangriffe gegen die IS-Stellungen in Sirte" zu starten. Die libysche Regierung wies darauf hin, sie sei "unfähig, dem IS zu begegnen, wegen des Waffenembargos gegen die Armee", das die Vereinten Nationen 2011 verhängt hatten.

Bei Gefechten zwischen bewaffneten örtlichen Kämpfern und IS-Mitgliedern waren in den vergangenen Tagen in Sirte dutzende Menschen getötet und verletzt worden. Ein Vertreter der örtlichen Behörden sagte am Freitag, seit Dienstag gebe es in Sirte einen "wahren Krieg".

In Libyen herrschen seit dem Sturz und dem gewaltsamen Tod des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi im Herbst 2011 Chaos und Gewalt, was sich die IS-Dschihadisten zunehmend zu Nutze machen. Die Städte werden von rivalisierenden Milizen kontrolliert, während zwei Parlamente und Regierungen die Macht für sich beanspruchen. Im östlichen Tobruk ist das international anerkannte Parlament ansässig, während sich in Tripolis das nicht anerkannte islamistisch dominierte Gegenparlament befindet. (KNA/AFP)

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