Triebfedern des Extremismus

Wie lassen sich Islamisierung und Radikalisierung von Jugendlichen in Europa erklären? Und inwiefern spielen außenpolitische Faktoren hierbei eine Rolle? Die Soziologin Dr. Matenia Sirseloudi hat sich mit politisch motivierter Gewalt und Radikalisierungsprozessen beschäftigt. Mit ihr sprach Albrecht Metzger.

Von Albrecht Metzger

Warum greifen Dschihadisten den Westen an? Hassen sie uns für das, was wir sind oder für das, was wir machen?

Matenia Sirseloudi: Natürlich beinhaltet die dschihadistische Ideologie auch eine Komponente, die uns für das was wir sind angreifen möchte. Andererseits kommt der Handlungsimpetus, uns anzugreifen aus der Erklärung des defensiven Dschihad. Das hat dann mit unserem Handeln zu tun, in erster Linie mit unserem außenpolitischen Verhalten. Die Dschihadisten interpretieren das als einen Angriff auf die muslimische Welt.

Sie beschäftigen sich mit den sogenannten "Spillover"-Effekten, also mit der Frage, inwiefern westliche Interventionen in islamischen Ländern zur Radikalisierung von Muslimen in Europa beitragen können. Wie kam es dazu?

Sirseloudi: Die Europäische Kommission hat nach den Anschlägen von Madrid und London entschieden, stärker in die Prävention zu investieren und sich mit den Radikalisierungsprozessen im islamistischen Milieu zu beschäftigen, die zu terroristischen Akten in Europa führen können. In diesem Kontext führte ich eine erste Studie zur Wirkung externer Konfliktgeschehen auf islamistische Radikalisierungsprozesse in Europa durch.

Dr. Matenia Sirseloudi; Foto: © Matenia Sirseloudi
Dr. Matenia Sirseloudi leitet das Verbundprojekt "TERAS-INDEX: Terrorismus und Radikalisierung – Indikatoren für externe Einflussfaktoren" am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

​​In unserem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt erforschen wir nun, wie sich diese externen Faktoren, bei denen auch das deutsche außen- und sicherheitspolitische Verhalten eine Rolle spielt, auf drei unterschiedliche radikalisierte Milieus (Dschihadisten, Islamisten und vulnerable Jugendliche) sowie auf den dschihadistischen Diskurs auswirken.

Bereits bei den Madrider Zuganschlägen im Jahr 2004 war die Argumentation der dschihadistisch motivierten Attentäter, dass man Spanien aus der Allianz der in den Irak militärisch intervenierenden Länder herausbrechen wollte. Ähnlich versuchte auch der französische Attentäter Mohammed Merah seine gezielten Morde zu rechtfertigen, indem er sich auf externe Konflikte, in diesem Fall Nahost und Afghanistan, bezog.

Was sind Ihre bisherigen Ergebnisse?

Sirseloudi: Wir haben zunächst untersucht, inwiefern die in Deutschland aktiv gewordenen Dschihadisten Bezüge zu äußeren Konflikten hatten. Es hat sich herausgestellt, dass dies bei einem großen Teil, nämlich 80 Prozent der von uns erfassten Fälle, zutraf. Das Phänomen des "Homegrown Terrorism", das in den letzten Jahren den Diskurs dominiert hat, scheint mir daher überbewertet.

Die meisten in Deutschland lebenden Dschihadisten haben zumindest versucht, ins Ausland zu gelangen, um sich dort an Kämpfen zu beteiligen, beziehungsweise sie wurden maßgeblich vom Ausland inspiriert, wenn nicht gar instruiert. Bei den Salafisten hat uns interessiert, inwiefern diese Konflikte dazu gedient haben, die Anhängerschaft zu mobilisieren. Vor allem bei denjenigen, die Gewalt rechtfertigen, spielen diese Konflikte eine große Rolle. Sie werden regelmäßig thematisiert und vor allem in Videos zur Mobilisierung verwendet.

Was kann die deutsche Politik dagegen tun?

Sirseloudi: Die Regierung muss zunächst einmal ihre Außenpolitik so kommunizieren und erklären, dass sich die Bevölkerung darin auch wiederfindet. Dazu muss die deutsche Politik erst mal wahrnehmen, dass die hiesige Bevölkerung zu einem gewissen Teil aus Muslimen besteht, deren Loyalität zur muslimischen Welt vielleicht höher ist als zu unseren traditionellen Verbündeten, dass ihnen ihre palästinensischen Glaubensbrüder und -schwestern vielleicht näher sind als unser Verbündeter Israel oder die ehemals säkularen arabischen Regime.

Das heißt, wir sollten bei unseren außenpolitischen Entscheidungen die Warnungen der Dschihadisten berücksichtigen?

Sirseloudi: Nein, natürlich dürfen wir uns nicht von irgendwelchen dschihadistischen Gruppierungen erpressen lassen. Sollte es im deutschen außen- und sicherheitspolitischen Interesse notwendig sein, sich an militärischen Interventionen zu beteiligen, so darf es kein Entscheidungskriterium sein, ob Dschihadisten dies befürworten oder nicht. Aber es gibt ein paar Punkte, anhand derer man die Wahrscheinlichkeit eines dschihadistischen "Spillover"-Effekts auf unsere Gesellschaften vorhersagen kann.

Sogenannte Kollateralschäden spielen dabei eine entscheidende Rolle. Wir müssen "saubere Kriege" führen. Ich weiß, dass es sehr schwer ist im asymmetrischen Kampf gegen den Terrorismus, wenn man mit einem illegitimen Gegner kämpft, sich an die Legalität zu halten. Wir kommen aber nicht drum herum, denn wir schaffen uns sonst mehr Feinde als wir besiegen können. Die Tötung von Zivilisten sollte so weit wie möglich vermieden werden, nicht nur weil sie gegen Menschrechte und geltendes Kriegsvölkerrecht verstoßen, sondern auch weil die Dschihadisten dies sofort für ihre Propaganda zu nutzen wissen.

War es richtig, dass sich Deutschland in Mali engagiert hat?

Sirseloudi: Die nördliche Sahel-Zone ist eine sehr instabile Region. Es ist im deutschen Interesse, dazu beizutragen, hier eine gewisse Ordnung zu schaffen, die nicht in dschihadistischer Hand liegt. Wenn die Operation erfolgreich sein sollte, so wird auch Deutschland lang- und mittelfristig davon profitieren.

Französische Soldaten i Rahmen der Mali-Intervention in Gao; Foto: Getty Images
Mali-Intervention auf dem Prüfstand: "Die Terroristen könnten Vorteile daraus ziehen, wenn wir intervenieren. Gleichzeitig werden wir sie militärisch schwächen. Wenn solche Interventionen mit legitimen Mitteln durchgeführt werden und nachhaltig sind, können sie erfolgreich sein. Doch hierin liegt das Problem: Wir sind in dieser Hinsicht oft nicht nachhaltig genug", meint Matenia Sirseloudi.

​​Denn – ganz abgesehen von der dschihadistischen Internetpropaganda aus dieser Region, die auch in Deutschland wahrgenommen wird – die terroristischen Gruppierungen, allen voran al-Qaida im Maghreb (AQIM), die aus einer algerischen Organisation hervorgegangen ist, haben Netzwerke in Europa, die auch uns gefährlich werden könnten. Gerade algerische Verbände sind deswegen gefährlich, weil sie aus einem langjährigen Bürgerkrieg hervorgegangen sind. Das sind keine "Homegrown"-Terroristen, die ihre Handbücher aus dem Internet herunterladen, sondern zum großen Teil erfahrene Kämpfer, die seit Jahren gegen die algerische Armee einen Kleinkrieg führen.

Wir sind also gerade dabei, uns mit den gefährlichsten Dschihadisten anzulegen?

Sirseloudi: So könnte man es ausdrücken. Aber wir können auch nicht einfach behaupten, nur Frankreich sei davon betroffen und wir nicht. Es handelt sich vielmehr um ein transnationales Problem.

Also war die Mali-Intervention richtig?

Sirseloudi: Wir werden von den Dschihadisten ohnehin als Teil des "dekadenten Westens" wahrgenommen, welcher der von ihnen propagierten Version des Islams die Luft zum Atmen nimmt. Die Lage ist ambivalent: Die Terroristen könnten Vorteile daraus ziehen, wenn wir intervenieren. Gleichzeitig werden wir sie militärisch schwächen. Wenn solche Interventionen mit legitimen Mitteln durchgeführt werden und nachhaltig sind, können sie erfolgreich sein. Doch hierin liegt das Problem: Wir sind in dieser Hinsicht oft nicht nachhaltig genug.

Interview: Albrecht Metzger

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de