Freiheit als dynamischer Prozess

Die Rede vom Menschen als Person ist tief von der christlichen Religion und der europäischen Kultur geprägt. Für Muslime ist sie nicht selbstverständlich. Der marokkanische Philosoph Mohamed Aziz Lahbabi deutete den Begriff der Person aus den islamischen Quellen und brachte damit das muslimische Menschenbild und westliche Anthropologien in einen Dialog. Darüber sprach Rachid Boutayeb mit Markus Kneer.

Von Rachid Boutayeb

Sie haben vor Kurzem eine kommentierte Übersetzung von Lahbabis Werk "Le personnalisme musulman" (dt. "Der muslimische Personalismus") und anderen Schriften unter dem Titel "Mohamed Aziz Lahbabi, Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie" veröffentlicht. Als christlicher Theologe, der sich auch mit dem interreligiösen Dialog beschäftigt, interessieren Sie sich seit Jahren für Lahbabis Werk. Warum Lahbabi? Und welche Aktualität besitzt sein Denken noch?

Markus Kneer: Als ich vor jetzt gut 13 Jahren auf die Schriften Mohamed Aziz Lahbabis (1923-1993) stieß, war ich auf der Suche nach einem muslimischen Denkansatz, der es unternahm, das islamisches Menschenbild und moderne westliche Anthropologien miteinander ins Gespräch zu bringen. Es schien mir, dass die Verortung des doch weithin christlich und okzidental geprägten Begriffs der Person in einem muslimischen Kontext ein Potential für den Dialog über das christliche und islamische Menschenbild in sich trug, den es auf jeden Fall zu heben galt. Und um genau diese Artikulation der menschlichen Person aus den islamischen Quellen geht es im "muslimischen Personalismus" Lahbabis. Seine Anknüpfungspunkte in der europäischen Philosophie sind der Personalismus Emmanuel Mouniers (1905-1950) und Jean Lacroix' (1900-1986) sowie die Lebensphilosophie Henri Bergsons (1859-1941).

Wir sprechen hier von den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen Lahbabi seine Philosophie entwickelte und das engagierte Denken Mouniers und der von letzterem gegründeten Zeitschrift Esprit in Frankreich und darüber hinaus großen Einfluss hatte. Heute ist der Personalismus durch andere Diskurse weitgehend abgelöst. Jedoch ist das Nachdenken über den Menschen als Person heute intensiver als in den vergangenen Jahrzehnten, und es scheint sich zu bewahrheiten, was Paul Ricœur schon vor dreißig Jahren ausgerufen hat: "Der Personalismus stirbt, die Person kehrt zurück!" Denn in diesem Begriff bündeln sich andere, die für die Artikulation und ethische Analyse menschlichen Lebens von hoher Wichtigkeit sind: z. B. Würde, Freiheit, Verantwortung. Und ich glaube, es kommt nicht von ungefähr, dass in den letzten offiziellen Veröffentlichungen der Arabischen Liga zu den Menschenrechten das arabische Äquivalent zu Person, "shakhs", sehr häufig auftauch.

Doch es bleibt die Frage: Wie wird dieser Begriff aus muslimischer Sicht verstanden? Lahbabis Aktualität besteht darin, die Artikulation eines muslimischen Personverständnisses vorzunehmen, welches die Quellen des islamischen Menschenbildes in universaler Perspektive zu Gehör bringen und mit anderen Personverständnissen abgleichen kann.

Der Mensch ist, Lahbabi zufolge, nicht das, was er bereits ist, sondern das, was er sein soll. Er ist das normative Endziel des Personalisierungsprozesses. Welche Rolle spielt der Andere in dieser Menschwerdung?

Kneer: Die Personwerdung ist ein komplexer Prozess, den Lahbabi in seinem ersten Hauptwerk "Vom Sein zur Person" ("De l'être à la personne", Paris 1954) analysiert hat. Die Personalisierung geschieht in mehreren Dimensionen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich das personalisierende Ich immer eingebunden findet: Es findet sich in einem Zeitfluss und in einem räumlichen Horizont, es findet sich in einer Sprach- und in einer Gefühlswelt, in einer Welt der Werte und in einer des Engagements. Diese Dimensionen findet unser Ich vor. Es wirkt in ihnen mit, ohne sie vollends zu bestimmen. Denn die Dimensionen entstehen erst mit und aus unseren Beziehungen zu anderen.

Treffen der Arabischen Liga; Foto:
"Ich glaube, es kommt nicht von ungefähr, dass in den letzten offiziellen Veröffentlichungen der Arabischen Liga zu den Menschenrechten das arabische Äquivalent zu Person, 'shakhs', sehr häufig auftaucht", sagt Kneer.

​​Zeit als Geschichte entsteht dadurch, dass das Ich Zeit als gemeinsame Zeit mit anderen erlebt und erfährt, dass Zeit fortschreitet, Fluss wird. Horizonte entstehen, indem sich das Ich in Beziehung zu anderen räumlich verortet. Sprache, Kommunikation entstehen allein durch die Begegnung mit anderen. Dasselbe gilt für unser inneres, geistiges Leben und unsere Gefühle. Das Ich, die Person überschreitet sich in diesen Bezügen zu den anderen, geht über sich hinaus. So ist der andere in der Konstitution der Person immer präsent. Die im Kontext der Wertewelt auftauchende Forderung, dass die Person in einem kontinuierlichen Prozess des Transzendierens ihr Menschsein immer mehr verwirklichen solle, hat ihren Ursprung in dem von anderen ausgelösten Prozess der Selbstüberschreitung.

Soweit die Theorie. Der historische und praktische Anlass dafür, dass Lahbabi den Prozess der Personwerdung analysiert, ist die durch den Kolonialismus ausgelöste Identitätskrise der Kolonisierten – und hier speziell der Intellektuellen. Das Kolonialsystem habe für ihn und viele andere depersonalisierende Auswirkungen gehabt, so Lahbabi. Anstatt Sprache, Kommunikation, geistiges Leben als Felder der Personalisierung zu erleben, habe seine Generation unter Sprachlosigkeit, Nichtkommunikation und einem Gefühl der inneren Leere gelitten. Lange habe er sich gefragt, ob er eine den anderen, sprich den Europäern, ebenbürtige Person sei. Die Rolle der anderen bei der Person- und Menschwerdung ist also nicht unproblematisch.

"Der Personalismus", sagt Lahbabi, "beginnt da, wo die Person die blinde Unterordnung unter irgendjemanden und irgendetwas verweigert und die Vernunft und den Geist als den höchsten Wert anerkennt". Widerspricht dieser Betonung der Vernunft nicht die Idee Lahbabis eines "Humanismus mit Gott"?

Kneer: An keiner Stelle seines Werks setzt Lahbabi den religiösen Glauben und die Vernunft als solche in Opposition zueinander. Wie die sie anwendenden Personen findet sich auch die Vernunft in vorgegebenen Kontexten wieder. Und einer dieser Kontexte ist für Lahbabi der religiöse. Die Vernunft nimmt hier wie in anderen Kontexten eine zentrale Funktion ein: Sie lässt die Person den religiösen Zusammenhang, d. h. den Glauben an Gott, seine Gebote usw., verstehen. Verstehen, was Lahbabi deutlich von Erklären unterscheidet, meint hier, die dem religiösen Glauben eigene Rationalität herauszuarbeiten.

Drei Punkte sind mit diesem Prozess verbunden: 1. Durch das Verstehen ihres Glaubens wird dieser selbst zum Feld der Personalisierung der Person. 2. Die Person macht den Glauben auch für andere verstehbar und so zu einem Teil des gemeinsamen geistigen Horizonts. Der Glaube muss sich in diesem Kommunikationshorizont bewähren. 3. Mit dem Verstehen des Glaubens ist auch seine Dynamisierung verbunden. Die gläubige Person überschreitet sich in der kontinuierlichen rationalen Reflexion über den Glauben und entwickelt sich und ihren Glauben weiter.

​​Die von Ihnen zitierte Stelle ist in diesem Zusammenhang zu verstehen: Lahbabi redet nicht einer vom religiösen Kontext abgelösten, absoluten Vernunft das Wort, sondern einer diesen Kontext erhellenden und dynamisierenden. Anders ausgedrückt, der ijtihad, die Bezeichnung der islamischen Theologie für die persönliche und rationale Aneignung des Glaubens, muss als die grundlegende Methode theologischen Arbeitens rehabilitiert werden. Mit dieser Positionierung ist Lahbabis profunde Kritik am taqlid, an der blinden Nachahmung und Befolgung überlieferter Auffassungen der großen muslimischen Lehrautoritäten verbunden. Nur die durch den ijtihad reflektierte shahada (die Bezeugung des einen und einzigen Gottes, das muslimische Glaubensbekenntnis) hat personalisierenden Wert, so Lahbabi.

Mit seinem dynamischen Vernunftbegriff nimmt Lahbabi in der Werthermeneutik eine Position ein, die zwischen den kulturell-religiösen Quellen von Werten und ihrer universalen Geltung vermittelt. Im Prozess des Überschreitens werden die kulturell geprägten Werte im Horizont anderer Werttraditionen verstehbar, ihre Universalisierbarkeit wird überprüfbar. Einseitiger Kulturalismus oder Universalismus ist mit Lahbabi nicht zu machen.

"Befreiung" ist ein zentraler Begriff der Philosophie Lahbabis. Wie kann man heutzutage diesen Begriff im Kontext der arabischen Revolutionen lesen?

Kneer: Fast bin ich geneigt, "Befreiung" als den zentralen Begriff der Philosophie Lahbabis zu bezeichnen, der jedoch unterschiedlich nuanciert wird. In der Einleitung zu "Vom Sein zur Person" bekräftigt er, dass damit der individuelle Weg des menschlichen Wesens zur Beherrschung seiner Instinkte, Triebe und Leidenschaften gemeint ist. In der Suche nach dem ausgewogenen Verhältnis zwischen Gefühl und Verstand durchläuft die Person einen Prozess der Befreiung von natürlichen Fixierungen. Eine zweite Nuance lässt sich in "Freiheit oder Befreiung?" ("Liberté ou libération?", Paris 1956), eines im Jahr der Unabhängigkeit Marokkos erschienen Werks ausmachen: Anhand der Kritik einer gewissen Strömung der europäischen Philosophie, welche die Freiheit allein als eine subjektive menschliche Kategorie bestimmt, zeigt Lahbabi, dass die menschliche Person in verschiedenen Kontexten auch jeweils verschiedene Freiheiten anstrebt, nicht nur die subjektive, sondern auch ökonomische und politische.

Diese Freiheiten sind jedoch nie statisch zu verstehen, so dass Personen ihrer ein für allemal habhaft werden können. Auch die Freiheiten sind in den Prozess der Befreiung eingebettet, so dass nach der Erlangung einzelner Freiheiten die neuen ökonomischen, politischen und sozialen Kontexte neue Befreiungsbewegungen erfordern. Durch ihre Kontextualisierung versteht Lahbabi hier unter Befreiung nie allein einen individuellen Vorgang, sondern einen Prozess, in dem sich Personen miteinander verbinden im Kampf für gemeinsame Werte.

Der derzeitige Kampf für Menschen- und Bürgerrechte im muslimisch geprägten Nordafrika und Nahen Osten lässt Lahbabis Person- und Befreiungsphilosophie in einem neuen Licht erscheinen. Denn genauso wie er Personen als ihre jeweiligen Kontexte transzendierende und in ihnen sich befreiende Handelnde beschreibt, so tritt uns stellvertretend für die vielen Menschen, die unter Einsatz und Hingabe ihres Lebens für ihre Freiheiten demonstrieren, Mohamed Bouazizi entgegen, jener Mann aus Sidi Bouzid in Tunesien, der durch die verzweifelte Tat der Selbstverbrennung die Bewegung ausgelöst hat. Auch für ihn waren es depersonalisierende Strukturen, die die Würde seines Personseins antasteten und aus denen er Befreiung suchte, die er – hoffentlich – für viele andere erlangt hat.

Lahbabi hat in seinen späteren Werken, als er eine Philosophie für die sogenannte "Dritte Welt" entwickelte, die durch den Neokolonialismus und seine Folgen ausgelösten depersonalisierenden Strukturen angeprangert und die dadurch ausgelösten Traumata beschrieben. Zugleich hat er daran festgehalten, dass jeder Mensch – unhintergehbar und unreduzierbar – eine Person ist. Und es ist der menschlichen Person eigen, nach Freiheit und Würde zu streben – gerade und auch in einer vom Islam geprägten Kultur und Gesellschaft. In Nordafrika und im Nahen Osten werden wir gerade Zeugen dieses Strebens.

Interview: Rachid Boutayeb

© Qantara.de 2011

Mohamed Aziz Lahbabi (1923-1993) war der erste Inhaber des Lehrstuhls für allgemeine Philosophie an der Muhammad V.-Universität in Rabat/Marokko. er war Präsident der marokkanischen Gesellschaft für Philosophie. 1988 wurde er für den Literaturnobelpreis nominiert.

Markus Kneer (geb.1972), Studium der Katholischen Theologie, Philosophie und Islamwissenschaften, Beauftragter für den christlich-muslimischen Dialog im Erzbistum Paderborn.

Mohamed Aziz Lahbabi: "Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie". Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Markus Kneer. Herder 2011

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de