Interview mit der Islamismus-Expertin Claudia Dantschke über Kinder von IS-Kämpfern

Der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen nannte sie "lebende Zeitbomben" - die Kinder von IS-Kämpfern. Viele von ihnen sind im Kriegsgebiet der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) auf die Welt gekommen. Nun kehren ihre Eltern allmählich mit ihnen nach Deutschland zurück. Im Interview erklärt die Islamismus-Expertin und Leiterin der Beratungsstelle für Deradikalisierung Hayat, Claudia Dantschke, wie mit Rückkehrern und ihren Kindern aus ihrer Sicht umgegangen werden sollte.

Frau Dantschke, wie bewerten Sie Schlagworte wie "lebende Zeitbomben"?

Claudia Dantschke: Vorurteile sind ein großes Problem. Diese Aussagen unterstellen pauschal, dass jedes zurückkehrende Kind ein potenzieller Terrorist ist. Wir müssen die Gefahr ernst nehmen, und ich kann Ängste verstehen. Aber Kinder sind immer erstmal Opfer - und wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht zu Tätern werden. Zudem muss ich sagen: Die Eltern haben sich in Deutschland radikalisiert und sind dann ausgereist. Es sind unsere Staatsbürger. Wir müssen alles tun, um die Gefahr zu bannen. Das geht am besten, indem man sich um sie kümmert. Dadurch können sie sich von der Ideologie distanzieren und wieder in die Gesellschaft integriert werden.

Sind Kinder von IS-Rückkehrern denn gefährlich?

Dantschke: Bisher gibt es keine Hinweise, dass Kinder aus Deutschland bei Kampfausbildungen im Kriegsgebiet dabei waren. Aber Psychologen müssen prüfen, unter welchem psychologischen Druck die Kinder standen. Vor allem bei älteren Kindern muss genauer auf die ideologische Beeinflussung durch die Eltern geschaut werden.

In welcher Verfassung kommen die Kinder in Deutschland an?

Dantschke: Rund die Hälfte der deutschen Kinder ist dort geboren und wahrscheinlich unter drei Jahren alt. Manche Familien sind rechtzeitig rausgekommen. Andere haben Kämpfe erlebt und sind erst in letzter Minute evakuiert worden. Daher untersuchen wir mit Psychologen, ob sie Traumatisches erlebt haben und wie sie es verarbeitet haben. Klassische Kriegseinflüsse wie Mangelernährung oder Krankheiten spielen eine Rolle. Bei manchen Kindern kommt es daher zu Entwicklungsstörungen. Hier kann man nicht generalisieren, vor allem nicht bei Kleinkindern.

In welchem Zustand kehren Frauen zurück? Vertreten sie noch immer die Ideologie des IS?

Dantschke: Auch hier gilt: Was sie erlebt haben, unterscheidet sich stark. Einige sind mit Traumvorstellungen dorthin gereist und in der Realität aufgewacht. Andere haben sich weiter radikalisiert. Es gibt auch Frauen, die irgendeinen Mann geheiratet haben, um aus den IS-Frauenhäusern rauszukommen. Viele ihrer Männer sind gestorben. Andere hatten schon jemanden, mit dem sie in Deutschland zusammen sein wollten. Zum Teil waren sie bereits verheiratet und reisten mit der Familie zum IS. Es muss in jedem einzelnen Fall genau geprüft werden.

Wenn die Rückkehrer hier angekommen sind - wie geht es weiter?

Dantschke: Wichtig ist, dass sich Rückkehrer an Beratungsstellen wenden. Vor allem die Erwachsenen müssen ihre Taten und Erlebnisse aufarbeiten. Manche Rückkehrer haben nicht mit der Ideologie des IS gebrochen, sondern sind nur aufgrund des Krieges und des Zerfalls des Kalifats zurückgekehrt. Da hat keine innere Auseinandersetzung mit dem IS stattgefunden - das ist aber notwendig, weil sie die Ideologie sonst auf die Kinder übertragen. Wir helfen, wieder in der Gesellschaft anzukommen, im Idealfall passiert das mit der Unterstützung durch die Herkunftsfamilie der Ausgereisten.

Wie machen Sie das genau?

Dantschke: Eine soziale Reintegration gelingt durch ein normales Leben mit Arbeit und Kindergartenplatz. Das darf nicht losgelöst von der Aufarbeitung ihrer Erfahrungen passieren - die Betroffenen müssen sich fragen, wieso sie das Kalifat des IS als ideales Lebensumfeld empfunden haben. Das ist eine Auseinandersetzung über einen langen Zeitraum. Wenn sie unsere Hilfe wollen, müssen sie sich dem stellen - zwingen können wir die Rückkehrer aber zu nichts.

Gibt es rechtliche Probleme?

Dantschke: Dass eine Mutter beim IS war, reicht nicht, um ihr ein Kind wegzunehmen - und auch nicht für einen Haftbefehl. Man muss ihr konkrete Unterstützungsleistungen für den IS nachweisen. Das Kindeswohl gilt nicht mehr als gefährdet, wenn die Mutter mit ihrem Kind zurück in Deutschland ist. Es muss einen aktuellen Anlass zur Kindeswohlgefährdung geben, damit das Jugendamt den Fall prüfen kann. Erst nach der Prüfung kann das Jugendamt abwägen, was schlimmer für ein Kind ist: der Einfluss der Eltern oder die Trennung von ihnen.

Wie können Kinder dann vor der IS-Ideologie geschützt werden?

Dantschke: Es sollte eine Art Netzwerk um die Fälle geben, wo Jugendamt, Schule, Kindergarten oder Jobcenter mit der Beratungsstelle zusammenarbeiten - und Fallstricke im Blick haben. Hier braucht es Transparenz: Wenn die Öffentlichkeit merkt, dass sich um die Rückkehrerfamilien gekümmert wird, baut das Ängste ab.

Die Bundesländer arbeiten an unterschiedlichen Konzepten für den Umgang mit Rückkehrern. Was ist Ihr Vorschlag?

Dantschke: Wir schlagen dafür eine Art Task Force vor, die das notwendige Wissen hat, um das eben genannte Netzwerk fachkompetent zu unterstützen. Neben der Expertise zu salafistisch-dschihadistischen Radikalisierungsprozessen und Ausstiegsansätzen muss auch Wissen über Kinderschutz und Traumata vorhanden sein. Wichtig ist eine auf den Fall abgestimmte Koordinierung. Die Task Force sollte bei Fachberatungsstellen angesiedelt werden.

Wie viele Eltern und Kinder betreuen Sie mit Ihrer Beratungsstelle?

Dantschke: Wir betreuen noch nicht viele, die zurückgekehrt sind. Die Zahl liegt im einstelligen Bereich. Viele sind noch in Syrien, in Gefangenenlagern oder in den letzten Restgebieten des IS. Wir betreuen die Herkunftsfamilien von rund 40 Erwachsenen mit knapp 50 Kindern, die noch in Syrien und dem Irak sind - viele von ihnen bereits, seit ihre Kinder ausgereist sind. Über sie versuchen wir, die Ausgereisten zur Rückkehr zu ermuntern.

Ist abzusehen, wann Mütter mit ihren Kindern nach Deutschland zurückkehren?

Dantschke: Nein, aber jetzt ist der Kontakt intensiv, weil die Rückkehrbereitschaft sehr groß ist. Viele sind in nordsyrischen Gefangenenlagern, in denen sich nichts bewegt. Die nordsyrischen Kurden sagen, dass die Bundesregierung sich melden und die Gefangenen abholen soll. Deutschland hat in Syrien aber keine diplomatische Vertretung. Deshalb prüft die Bundesregierung eine Zusammenarbeit mit den syrischen Kurden und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. Weil wir die Herkunftsfamilien schon lange betreuen, haben wir eine gute Vorstellung, was erforderlich sein wird, wenn die Ausgereisten zurückkommen. (KNA)