Die Barriere der Angst ist durchbrochen

Der renommierte Politikwissenschaftler Ammar Ali Hassan ist zuversichtlich, dass die ägyptische Zivilbevölkerung nach dem Ende des Mubarak-Regimes einen Machtmissbrauch der Muslimbrüder und eine neuerliche Diktatur im religiösen Gewand niemals zulassen würde. Martina Sabra hat mit ihm gesprochen.

Von Martina Sabra

Die Koalition aus Muslimbrüdern und Salafisten hat den Wählern mehr soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Reformen und einen funktionierenden Staat versprochen. Bisher wurde keines der Versprechen eingelöst. Wie reagieren die Bürger in Ägypten?

Ammar Ali Hassan: Wenn man vor der Revolution auf der Straße schlecht über die Muslimbrüder oder über die Salafisten sprach, dann haben die Menschen das nicht akzeptiert, denn das kam einer Beleidigung des Islams gleich. Das hat sich radikal geändert. Die Menschen in den Cafés und auf den Plätzen fordern uns Intellektuelle heute explizit zur Kritik auf. Sie wollen, dass wir die Skandale aufdecken und die Propaganda entlarven. Das war früher undenkbar. So etwas hört man erst, seitdem die Muslimbrüder an der Macht sind.

Was halten sie von der Verfassung, die im vergangenen Dezember im Eiltempo verabschiedet wurde?

Ali Hassan: Die Verfassung ist eine Katastrophe, auch wenn der eine oder andere Artikel positiv zu bewerten ist. Man muss den Text als Ganzes lesen. Wenn in einer Verfassung 100 gute Artikel zu finden sind, aber weitere drei, die alle anderen Artikel wieder aufheben oder zunichte machen, dann ist die Verfassung schlecht. Nehmen Sie das Konzept der Staatsbürgerlichkeit ("muwatana"). In der Verfassung von 1971 garantierte dafür der Artikel 1. In der neuen Verfassung ist dieses Konzept weit nach hinten gefallen. Stattdessen wird der Einfluss religiöser Institutionen gestärkt.

Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen Präsident Mursi; Foto: Reuters
Der Widerstand der Aktivisten vom Tahrir-Platz gegen Mursi erlischt nicht: "Die Muslimbrüder haben binnen weniger Monate deutlich ihr wahres Gesicht entblößt und anstatt der revolutionären oder verfassungsmäßigen Legitimität den Weg der Überrumpelung gewählt. Das Volk lässt sich aber nicht mehr alles gefallen", so Ammar Ali Hassan.

​​Der Exekutive wird auch zum ersten Mal die Möglichkeit eingeräumt, Berufsverbände bzw. Gewerkschaften aufzulösen. Ein anderes Beispiel ist die Presse- und Meinungsfreiheit: Ein Zeitungsunternehmen kann jetzt durch richterlichen Beschluss komplett geschlossen werden. Auf diese Weise versuchen die Muslimbrüder, die Medien zu kontrollieren und Andersdenkende zum Schweigen zu bringen.

Im kommenden April soll in Ägypten ein neues Parlament gewählt werden. Glauben Sie, dass die Muslimbrüder die Macht abgeben werden, falls die Wähler sich gegen sie entscheiden?

Ali Hassan: Wenn es bei den Wahlen wirklich fair und sauber zugeht, dann müssen die Muslimbrüder mit hohen Verlusten rechnen. Aber ich bin mir eben nicht sicher, ob es bei den Wahlen auch wirklich fair zugehen wird. Präsident Mursi spürt, dass seine Beliebtheit schwindet. Deshalb versucht er, die Bindeglieder des Staates zu kontrollieren, d.h. die Minister und alle Institutionen, die direkt mit den Wahlen zu tun haben.

Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die jüngste Regierungsumbildung?

Ali Hassan: Die jüngste Regierungsumbildung steht in direktem Zusammenhang mit der bevorstehenden Wahl. Der neue Minister für Subventionen, Basem Kamal, ist ein Muslimbruder. Er soll im Vorfeld der Wahl dafür sorgen, dass die Versorgung mit den wichtigsten Gütern gewährleistet ist. Mohammed Ali Bishr, ein Mitglied des Obersten Führungsgremiums der Muslimbrüder ("maktab al-irshad") ist jetzt Minister für lokale Entwicklung. Auch das gehört zum Plan, denn in der Provinz die jeweiligen Entscheidungsstrukturen vor Ort zu kontrollieren, ist sehr wichtig für erfolgreiche Wahlen.

In Ägypten lässt sich derzeit eine zunehmende Polarisierung unter den politischen Akteuren und Blöcken beobachten: Auf der einen Seite die einflussreichen konservativen Muslimbrüder und auf der anderen Seite die eher marginalisierte, säkulare, liberale, progressive Rettungsfront. Wie nehmen Sie die politische Landschaft in Ägypten wahr?

Ali Hassan: Im Westen glaubt man, dass die Ägypter im Referendum für das islamistische Projekt gestimmt haben. Das ist nicht richtig. Nach dem 25. Januar 2011 haben die Ägypter für die Kraft gestimmt, die organisiert und bereit war, die Macht zu übernehmen. Die Kraft, von der man glaubte, dass sie nicht korrupt wäre und dass sie dem Land dienen würde.

Demonstration von Anhängern der Salafisten in Kairo; Foto: Reuters
Unliebsame islamistische Konkurrenz für die Muslimbruderschaft: Die Salafisten waren zunächst fast ausschließlich missionarisch orientiert und eher apolitisch. Mittlerweile haben sie mehrere Parteien gegründet und sind dabei, zu einer politischen Kraft zu werden, glaubt Ammar Ali Hassan.

​​Was die Parteienlandschaft betrifft, so ist einiges in Bewegung geraten. Die Salafisten waren zunächst fast ausschließlich missionarisch orientiert und eher apolitisch. Mittlerweile haben sie mehrere Parteien gegründet und sind dabei, zu einer politischen Kraft zu werden. Sie könnten den Muslimbrüdern in Zukunft Konkurrenz machen. Die nichtreligiöse, zivile Strömung ("tayyar madani") ist aufgewacht. Die Anhänger von Hamdeen Sabahi zum Beispiel sind in den ägyptischen Städten jetzt viel stärker präsent.

Auch die "Dustour-Partei" unter Mohammed ElBaradei findet in den Städten immer mehr junge Anhänger. Dasselbe gilt für traditionelle Parteien wie die liberale "Wafd" und auch die Partei "Starkes Ägypten", ein Sammelbecken moderater ehemaliger Muslimbrüder, mit Abdelmonim Abulfutuh an der Spitze, der früher im Politbüro der Muslimbrüder war, bevor man ihn entlassen hat.

Die Muslimbrüder funktionieren weitgehend immer noch wie eine Untergrundorganisation. Sie sind sehr hierarchisch organisiert. Innere Entscheidungsprozesse sind nicht transparent, ebensowenig wie die Beziehungen zwischen der Bewegung und der "Partei für Freiheit und Gerechtigkeit". Ägypten hat sich aber verändert, politische Organisationen können jetzt legal arbeiten. Vor allem viele junge Leute wollen transparentere Strukturen und Akteure, die Rechenschaft ablegen. Sehen Sie bei den Muslimbrüdern Ansätze für demokratische Reformen?

Ali Hassan: Die Veränderungen können von zwei Seiten kommen: Zum einen könnte die Koalition aus Salafisten und Muslimbrüdern brüchig werden. Das passiert schon jetzt, weil die Muslimbrüder politisch wichtige Posten nur an ihre eigenen Leute vergeben. Die salafistische "Nour-Partei" hat dem einflussreichen Muslimbruder Kheirat al-Shatir vorgeworfen, dass er einen Keil zwischen die Salafisten treiben wolle. Zum anderen gibt es interne Auseinandersetzungen bei den Muslimbrüdern. Nach den Ereignissen am Präsidentenpalast in Heliopolis, als das Oberste Führungsgremium der Muslimbrüder Schlägertrupps losschickte, um die Demonstranten zu vertreiben, haben rund 250 meist junge Muslimbrüder die Bewegung verlassen. Sie haben das nicht öffentlich gemacht, aber ich weiß das aus sicherer Quelle.

Viele Beobachter befürchten, dass Präsident Mursi zu einem neuen Mubarak werden könnte. Teilen Sie diese pessimistische Einschätzung?

Ali Hassan: Nein, da wäre ich nicht so pessimistisch. Die Muslimbrüder haben binnen weniger Monate deutlich ihr wahres Gesicht entblößt. Sie haben statt der revolutionären oder verfassungsmäßigen Legitimität den Weg der Überrumpelung gewählt. Das Volk lässt sich aber nicht mehr alles gefallen. Die Barriere der Angst ist durchbrochen. Es gibt eine zivile politische Strömung, die sich allmählich selbst organisiert und die immer stärker wird. Die Muslimbrüder haben keine wirkliche Lösung für die wirtschaftlichen Probleme des Landes. Deshalb bin ich optimistisch, dass sie keine neue Diktatur in Ägypten errichten werden.

Interview: Martina Sabra

© Qantara.de 2013

Ammar Ali Hassan ist Sozialwissenschaftler und Romanautor. Er studierte politische Soziologie an der Universität Kairo. Als Mitglied der Oppositionsbewegung "Kifaya" ("Es reicht!") nahm er aktiv an den Protesten gegen das Mubarak-Regime teil. Zu seinem Werk gehören mehrere Studien über Demokratisierung sowie Romane. Aktuell arbeitet er an einer arabischsprachigen Enzyklopädie der politischen Soziologie. Im Frühsommer 2013 soll in Kairo sein autobiografischer Roman über die ägyptische Revolution erscheinen.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de