Stabilität auf dem Prüfstand

Die libysche Regierung steht vor einem Scherbenhaufen: Nur knapp vier Wochen nach seiner Wahl stürzt Ministerpräsident Mustafa Abu Shaqur über ein Misstrauensvotum. Und auch die Sicherheitslage bleibt prekär, da die Entwaffnung der Milizen nach wie vor nur sehr schleppend verläuft. Informationen von Hanspeter Mattes vom GIGA Institut für Nahost-Studien

Von Hanspeter Mattes

Die Herstellung einer stabilen öffentlichen Sicherheit erfordert zum einen eine breit legitimierte Staatsführung, zum anderen eine Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Beides ist in Libyen im Oktober 2012, ein Jahr nach dem Sturz und der Tötung Gaddafis und der Proklamation der "Befreiung Libyens" durch den Nationalen Übergangsrat, trotz beachtlichen Fortschritten bei der Institutionenbildung, nicht gegeben.

Zwar hat der Nationale Übergangsrat entsprechend der von ihm am 3. August 2011 verabschiedeten Provisorischen Verfassungserklärung im November 2011 die versprochene Übergangsregierung unter Premierminister Abd al-Rahim al-Kib und wie geplant am 7. Juli 2012 die Wahlen für die 200-köpfige neue Legislative, den Allgemeinen Nationalkongress (GNC), durchgeführt, der seinerseits am 9. August den langjährigen Oppositionspolitiker Yusuf al-Maqaryif aus Bengasi zu seinem Präsidenten und damit De-facto-Staatschef wählte, doch die Regierungsbildung stockt.

Ministerpräsident im Streit um Kabinett gestürzt

Der GNC, der den Nationalen Übergangsrat als oberste Entscheidungsinstanz ablöste, hat zwar am 12. September mit knapper Mehrheit den Parteifreund Maqariyafs, Mustafa Abu Shaqur aus Tripolis zum neuen Premierminister gewählt, doch dessen am 3. Oktober vorgelegte 28 Ressorts umfassende Kabinettsliste stieß auf massive Kritik: zu viele unbekannte und unerfahrene Ministerkandidaten, zu viele Vertreter der Muslimbrüder (acht), zu geringe regionale Ausgewogenheit, nur eine Frau (soziale Angelegenheiten) und zudem einige Kandidaten – wie der vorgeschlagene Innenminister Brigadegeneral Omar al-Aswad – mit zu starker Verbindung zum früheren Gaddafi-Regime.

Am Sonntag (7.10.) sprach das libysche Parlament Ministerpräsident Abu Shaqur dann das Misstrauen aus, womit der erste gewählte Regierungschef nach dem Sturz Gaddafis aus dem Amt scheidet.

Der libysche Ministerpräsident Abu Shaqur; Foto: Reuters
Herber Rückschlag im Ringen um eine stabile Regierung: Der neu gewählte Ministerpräsident Mustafa Abu Shaqur wurde durch ein Misstrauensvotum wieder aus dem Amt befördert worden.

​​Der bislang planmäßig verlaufene Institutionenbildungsprozess hat damit seine erste Bewährungsprobe zu bestehen. Denn ohne kompetente und breit anerkannte "nationale" Regierungsmannschaft, einen respektierten Innen- und Verteidigungsminister gibt es weder die notwendige Wiederaufbaupolitik noch die dafür erforderliche stabile Sicherheitslage.

Die anhaltend prekäre Sicherheitslage hat sich deutlich angesichts des Überfalls auf das US-Konsulat in Bengasi am 11. September, dem Jahrestag von 9/11, gezeigt, bei dem der zufällig anwesende US-Botschafter Christopher Stevens durch Rauchvergiftung den Tod fand.

Dieser Überfall offenbarte zum einen die Schwäche der neuen staatlichen Sicherheitsorgane bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und dem Schutz der Auslandsvertretungen, also der dem Verteidigungsministerium unterstehenden neuen libyschen Armee und der in sie integrierten revolutionären Milizen, zum anderen der Polizeieinheiten des dem Innenministerium unterstehenden Supreme Security Committees (SSC).

Auch in das SSC wurden im Rahmen der Ausweitung staatlicher Kontrolle revolutionäre Brigaden komplett unter Aufrechterhaltung ihrer eigenen Befehlsstrukturen integriert. Eine fehlende starke Regierung, zu viele bewaffnete Gruppen, die sich der neuen Staatsführung nicht beugen, sowie komplizierte Befehlsstrukturen, mangelnde Ausbildung und divergierende Loyalitäten verhindern bislang den effizienten Einsatz der Sicherheitskräfte zur Herstellung einer stabilen Sicherheitslage.

Der Widerstand der Brigaden

Das staatliche Gewaltmonopol wird vor allem durch die 2011 im Zuge des Kampfes gegen Gaddafis Streitkräfte gebildeten 400 bis 500 revolutionären Brigaden herausgefordert, die jeweils zwischen 100 und 1.000 Kämpfer ("Thuwwar") binden und zum größten Teil immer noch fernab ihrer Heimatgebiete seit den Kämpfen 2011 kleinere Gebiete und Ortsteile kontrollieren.

Diese Brigaden hatten sich größtenteils nach tribaler bzw. lokaler Herkunft zusammengeschlossen. Es gab jedoch auch Brigaden, die sich auf regionaler oder ideologischer Basis gründeten. Letzteres galt insbesondere für die Brigaden, die über den Sturz Gaddafis hinaus für eine salafistisch-islamistische Ausrichtung des revolutionären Libyen eintraten.

Abgabe von Waffen an die libysche Armee in Bengazi im September 2012; Foto: Reuters
Schleppende Waffenübergabe: Nach dem Sturz des Machthabers Muammar Gaddafi im vergangenen Jahr weigern sich zahllose bewaffnete Gruppen, ihre Waffen niederzulegen, und nehmen das Gesetz häufig selbst in die Hand.

​​Beispiele hierfür sind die Ansar al-Scharia in Bengasi und Derna, die vom Grünen Gebirge stammende Katibat Shuhada' Abu Slim, die Katibat Omar al-Mukhtar, die Brigade des inhaftierten Omar Abd al-Rahman oder die in die Armee integrierten Brigaden Rafallah al-Sihati oder 17. Fibrair. Einzelnen Kommandeuren und Kämpfern werden zudem Beziehungen zur Terrororganisation Al-Qaida im islamischen Maghreb nachgesagt; stichhaltige Nachweise liegen dafür bislang nicht vor.

Während ein Teil der Brigaden mit bislang rund 40.000 "Thuwwar" entsprechend den Demobilisierungsaufrufen des Nationalen Übergangsrates seit Februar 2012 in die Armee integriert werden konnte, wo sie im Auftrag des Verteidigungsministeriums die Sicherung von öffentlichen Einrichtungen wahrnehmen oder als Teil spezieller Interventionseinheiten bei lokalen Konflikten wie in Kufra oder Sabha zum Einsatz kommen, ignoriert der größere Teil der Brigaden trotz des hohen gebotenen Soldes bislang die Aufrufe zur Demobilisierung und Waffenabgabe.

Sie fordern über ihre regionalen Zusammenschlüsse wie die Union der Revolutionäre von Misrata oder den Tajammu' Saraya al-Thuwwar in Bengasi bzw. den im April 2012 auf nationaler Ebene gegründeten Höchsten Rat der Revolutionäre unter Vorsitz von Abd al-Majid al-Kikli zuerst die Erfüllung zentraler politischer Anliegen. Hierzu gehören primär ein Immunitätsgesetz für alle während des Krieges begangenen Handlungen, Entschädigungszahlungen sowie eine angemessene Vertretung der "Thuwwar" in politischen Gremien.

Forderung nach zivilen Beschäftigungsmaßnahmen

Diese ist für sie weder im GNC noch in der Regierungsvorschlagsliste von Abu Shaqur gegeben, wo Verteidigungsminister Oberst Usama al-Juwaili, früherer Kommandeur der Zintan-Brigade, abgesetzt wurde. Andere Brigademitglieder wiederum fordern statt der Option einer Integration in das Militär zivile Beschäftigungsfördermaßnahmen.

Ein kleinerer Teil – auch dies ist Teil der Postkonfliktlandschaft – hat sich lukrativen kriminellen Aktivitäten verschrieben (Schmuggel, Waffenhandel, Drogenhandel, Schleuseraktivitäten) und widersetzt sich vehement dem Druck zur Selbstauflösung und Demobilisierung.

Ein Sonderfall sind schließlich einige Brigaden im Raum Bani Walid, dem Hauptort des mit Gaddafi und den Qadadfa eng liierten Stammes der Warfalla, der nach wie vor als Hochburg des Widerstandes gegen die neue politische Führung gilt.

Die libysche Stadt Bani Walid im Januar 2012; Foto: Getty Images
Hochburg des Widerstandes gegen die neue politische Führung: Die Brigaden im Raum Bani Walid sind noch stark von Gaddafi-Anhängern durchsetzt und stehen in Rivalität zu den Milizen aus dem nördlich benachbarten Raum von Misrata, der "Heldenstadt" der Revolution.

​​Die dortigen Brigaden sind noch stark von Gaddafi-Anhängern durchsetzt und stehen in Rivalität zu den Milizen aus dem nördlich benachbarten Raum von Misrata, der "Heldenstadt" der Revolution. Ihre politische Reichweite und ihr Störpotenzial für die Regierungsbildung sind dennoch sehr beschränkt.

Die durch die Ermordung von Botschafter Stevenson ausgelöste Dynamik zivilgesellschaftlicher Organisation und Proteste lässt indes hoffen, dass sich die Kontrolle der Brigaden und ihre Einbindung in staatliche Strukturen oder ihre Demobilisierung sukzessive realisiert.

Zum einen hat am 23. September in Bengasi eine Großdemonstration mit rund 30.000 bis 40.000 Teilnehmern unter dem Motto "Rette Bengasi" stattgefunden, parallel zu kleineren ähnlichen Demonstrationen u.a. in Tripolis und Derna.

Diese Demonstrationen waren sowohl gegen die autonom agierenden Brigaden gerichtet als auch gegen jene vor allem islamistischen Brigaden, denen man – wie den Ansar al-Scharia – eine Verwicklung in den Angriff auf das US-Konsulat nachsagte. GNC-Präsident Maqaryaf ordnete seinerseits am 23. September die Auflösung aller nicht in die Armee oder das SSC integrierten Brigaden an, ohne dies allerdings real auch durchsetzen zu können. Gleiches gilt für das Notstandsgesetz, das der GNC am 27. September verabschiedete.

Das Notstandsgesetz zeigt allerdings deutlich, dass die politische Führung Libyens im Einklang mit dem größten Teil der Bevölkerung nicht länger gewillt ist, sich dem Druck und Widerstand der Milizen zu beugen. Mittelfristig ist deshalb mit ihrer Unterwerfung oder Auflösung zu rechnen.

Ein Anfang ist auch mit der Einsammlung der seit den Kriegshandlungen 2011 zirkulierenden Waffen gemacht, darunter mindestens 200.000 Maschinengewehre. Eine erste Sammelaktion Ende September in Tripolis und Bengasi war mehr als symbolisch, wenngleich in anderen Landesteilen angesichts der instabilen Sicherheitslage bislang wenig Neigung besteht, Kleinwaffen abzugeben.

Hanspeter Mattes

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de