Hintergund: Was die Behörden im Fall Amri wann wussten

Der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt hat die deutschen Sicherheits- und Ausländerbehörden vor seiner Tat länger als ein Jahr beschäftigt. Nun veröffentlicht die Bundesregierung eine Chronologie der Vorgänge um den Salafisten Anis Amri.

Vier Wochen nach dem Anschlag von Anis Amri auf einen Berliner Weihnachtsmarkt hat die Bundesregierung eine Chronologie der Erkenntnisse und Vorgänge in den Behörden veröffentlicht. Sie zeigt, dass sich Behörden zeitweise fast wöchentlich mit Amri befassten.

4. April 2011: Amri reist über Lampedusa nach Italien ein 5. April 2011: Der spätere Attentäter wird in Italien unter dem Namen Anis Amri und dem Geburtsdatum 22. Dezember 1994 registriert.

23. Oktober 2011: Amri wird in Catanien wegen Sachbeschädigung, Körperverletzung, Bedrohung und Unterschlagung festgenommen. Am 14. April 2014 wird er im Gefängnis gegen Beamte gewalttätig. Nach der bis Mai 2015 dauernden Haft kommt Amri in ein Abschiebegefängnis. Weil Tunesien nicht innerhalb von 30 Tagen auf eine Anfrage nach Dokumenten reagierte, wird er am 17. Juni 2015 entlassen.

23. Juni 2015: Italien schreibt Amri im Schengener Informationssystem SIS zur Einreiseverweigerung aus.

6. Juli 2015: Erstmals fällt Amri in Deutschland der Polizei im baden-württembergischen Freiburg wegen unerlaubter Einreise auf. Die Polizei nimmt gefälschte Personalien auf - Amri verwendet den Namen Anis Amir und das Geburtsdatum 23. Dezember 1993.

28. Juli 2015: Amri wird in Berlin aktenkundig. Von der Zentralen Aufnahmeeinrichtung dort wird eine Bescheinigung ausgestellt, die ihn als Asylsuchendenausweist. Amri erhält die Auflage, sich in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Dortmund zu melden.

30. Juli 2015: Amri erscheint in Dortmund, am 3. August erstellt die dortige Zentrale Ausländerbehörde eine Asylsuchenden-Bescheinigung. Amri gibt sich als Ägypter aus. Für ihn wird das Ausländeramt Kleve zuständig, das Amri nach Emmerich schickt.

27. Oktober 2015: Erstmals wird Amri wegen Islamismus auffällig. Ein Zimmernachbar will auf dessen Handy Fotos von mit Kalaschnikows bewaffneten Schwarzgekleideten gesehen haben, die mit Handgranaten posierten. Die Polizei legt einen «Prüffall Islamismus» an.

19. November 2015: Im Zuge eines anderen Ermittlungsverfahrens des Generalbundesanwalts in Karlsruhe wegen Werbung für die Terrormiliz Islamischer Staat berichtet eine Vertrauensperson des Landeskriminalamts (LKA) Nordrhein-Westfalen (NRW), ein noch nicht identifizierter «Anis» habe gesagt, er wolle «hier» etwas «machen». Die Landeskriminalämter NRW und Berlin ermitteln wochenlang gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt, um «Anis» zu identifizieren.

25. November 2015: Die Vertrauensperson berichtet, «Anis» habe gesagt, «problemlos eine Kalaschnikow in Napoli besorgen» zu können. Er erwecke den Eindruck, für seinen Glauben kämpfen zu wollen. Am 3. Dezember soll «Anis» laut dieser Quelle gesagt habe, er wolle in Paris Kalaschnikows kaufen, um in Deutschland Anschläge zu verüben.

14. Dezember 2015: Im Rahmen der Überwachung des noch nicht identifizierten «Anis» stellen die Ermittler fest, dass dieser sich im Internet für chemische Formeln interessiert, die zur Herstellung von Sprengmitteln genutzt werden können. Am 21. Dezember informiert das Landeskriminalamt NRW das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und diverse andere Sicherheitsbehörden.

26. Januar 2016: Im LKA Berlin geht ein Tipp des BfV ein, dass es einen Hinweis gebe, Amri wolle sich Geld zur Vorbereitung eines Anschlags mit Schnellfeuerwaffen beschaffen. Der Berliner Generalstaatsanwalt sieht am 29. Januar keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Einleitung eines Strafverfahrens.

4. Februar: Das BKA schätzt die Erkenntnisse über Amri so ein, dass ein Anschlag eher auszuschließen ist. Amri ist an diesem Tag erstmals im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern in Berlin (GTAZ) Thema. Tenor der Sicherheitsbehörden dort: «Schädigendes Ereignis in der Zukunft eher unwahrscheinlich.»

5. Februar: Die Bundespolizei schreibt Amri als Islamisten mit möglichem Bezug zur Terrormiliz Islamischer Staat zur Fahndung aus.

17. Februar: NRW-Behörden stufen Amri als Gefährder ein, von dem jederzeit ein Anschlag ausgehen könnte. Das BKA nimmt Kontakt mit italienischen und tunesischen Behörden auf.

18. Februar: Amri reist nach Berlin und wird bei seiner Ankunft am Zentralen Omnibus-Bahnhof kontrolliert. Sein Handy wird sichergestellt. Bei einer Observation stellen die Ermittler keine Hinweise fest, die auf die Vorbereitung einer Straftat deuten. Auch die Auswertung des Handys ergibt nichts.

23. Februar: Das BKA macht erhebliche Zweifel an der Belastbarkeit der Aussagen der Vertrauensperson deutlich, die von einem geplanten Anschlag Amris mit Schnellfeuergewehren berichtet hat. Die Sicherheitsbehörden befassen danach immer wieder mit Amri, bleiben aber bei ihrer Einschätzung: Anschlag eher unwahrscheinlich.

10. März: Amri wechselt seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin, er hat dort mehrere Aufenthaltsorte. Die Berliner Behörden übernehmen die Zuständigkeit und stufen ihn ebenfalls als Gefährder ein.

18. März: Die Observierung Amris wird vorläufig eingestellt. Es habe keine Erkenntnisse gegeben, die eine Fortsetzung der Überwachung in diesem Umfang nötig gemacht hätten.

23. März: Nachdem die Generalstaatsanwaltschaft Berlin keinen ausreichenden Anfangsverdacht für ein Strafverfahren wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat erkennt, leitete sie ein Strafverfahren wegen des Verdachts des Versuchs der Beteiligung an einem Mord ein.

28. März: Die Vertrauensperson berichtet, Amri habe die Anschläge von Brüssel befürwortet und einen später geplanten Selbstmordanschlag mit einem Sprengstoffgürtel angedeutet.

4. April bis 21. September: Das Landeskriminalamt Berlin beschließt die Observation Amris und überwacht seine Telekommunikation. Dabei zeigen sich einerseits islamistisches Gedankengut und kriminelle Aktivitäten wie Diebstahl und Betrug. Amri pendelt häufig zwischen NRW und Berlin. Kontakte aus Moscheen in Berlin nutzt er meist, um Hilfe bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche zu erhalten. Ab Mitte Mai werden vermehrt Gespräche abgehört, die kriminelle Handlungen thematisieren. Taten seien nicht festzustellen gewesen. Amri äußert häufiger den Wunsch, nach Tunesien zurückzukehren. Zu Beginn des Ramadans im Juni sei Amri wieder deutlicher religiös geworden. Doch während des Ramadans sei die Religiosität wieder stärker in den Hintergrund getreten, Besuche in Moscheen seien kaum noch feststellbar gewesen. Amri fällt als Kleindealer auf. Nach einer Schlägerei mit anderen Dealern versucht Amri Ende Juli, Deutschland in Richtung Italien und möglicherweise Tunesien zu verlassen.

29. Juli bis 1. August: Nach einem Fahndungshinweis wird er in Friedrichshafen in einem Fernbus in Gewahrsam genommen. Er hat zwei gefälschte italienische Identitätskarten dabei. Ein Haftantrag zur Vorbereitung der Abschiebung wird bis zum 1. August befristet. Weil eine Abschiebung wegen fehlender Reisedokumente nicht möglich ist, wird er entlassen. Er soll sich in Kleve anmelden. Das Verfahren wegen Urkundenfälschung wird vorläufig eingestellt.

Anfang August: Amri kehrt nach Berlin zurück, wechselt mehrfach seine Telefonnummern und steigt stärker in die Drogenszene ein. Er nimmt harte Drogen wie Kokain und Ecstasy. Morgengebete oder die rituelle Schlachtung zum wichtigen Opferfest Mitte September lässt er aus.

21. September: Weil sich keine Hinweise auf eine Planung religiös motivierter Gewalttaten ergeben haben, endet Amris Überwachung in Abstimmung mit der Generalstaatsanwaltschaft Berlin. Die Einschätzung lautet: «Es entstand der Eindruck eines jungen Mannes, der unstet, sprunghaft und äußerst wenig gefestigt erscheint.»

Im Oktober: Amri mehrfach an seiner Meldeanschrift in Emmerich über Überprüfungen nicht angetroffen. Am 13. Oktober wird Amri in der bundesländerübergreifenden Polizeidatenbank Inpol als «Foreign Fighter» («Ausländischer Kämpfer») erfasst. (dpa)  

14. Oktober: Drei Mitteilungen der marokkanischen Behörden werden zusammengefasst vom BKA an das LKA NRW weitergegeben. Marokko teilte mit, Amri sei IS-Anhänger und hoffe, sich dem IS in Syrien, dem Irak oder Libyen anzuschließen. Das LKA Berlin kommt nach einer Prüfung zu der Feststellung, dass die Mitteilung keine über den bisherigen Erkenntnisstand hinausgehenden Informationen enthalte.

20. Oktober: Das tunesische Generalkonsulat lehnt die Ausstellung von Passersatzpapieren ab, weil Fingerabdrücke nicht identifiziert seien 28. Oktober: Der Verfassungsschutz in NRW stellt fest, dass sich ein Amri zuzuordnendes Handy im Raum Berlin/Brandenburg ins Netz eingebucht hat. Anschließend ist Amri am 2. November zum insgesamt elften Mal Thema im GTAZ. An 5. Dezember wird er von Amts wegen in Emmerich abgemeldet.

19. Dezember: Beim Anschlag Amris in Berlin sterben 12 Menschen, rund 50 werden teils schwer verletzt.

21. Dezember: Bei der Zentralen Ausländerbehörde in Köln gehen die Passersatzdokumente aus Tunesien ein.