Der Extremismus greift um sich

Blinder, archaischer Hass drängt einige Israelis zum Mord. Heute genügt es offenbar, Palästinenser zu sein, um in Israel angegriffen zu werden. Ein Essay des israelischen Schriftstellers David Grossman

Von David Grossman

Der ermordete Säugling namens Ali Dawabsche lässt mir keine Ruhe. Die Vorstellung, dass die Hand eines Menschen zu nächtlicher Stunde ein Fenster aufreißt und einen Molotowcocktail in das Zimmer wirft, in dem Eltern und ihre Kinder schlafen, treibt mich um. Diese Bilder und Gedanken zerreißen einem das Herz. Wer ist der Mann, wer sind die Männer, die so etwas fertigbringen? Sie und ihre Kumpane wandeln auch am heutigen Morgen unter uns. Sieht man ihnen an, was sie getan haben? Was haben sie in sich ausgelöscht, bevor sie fähig waren, zur Auslöschung einer Familie zu schreiten?

Benjamin Netanjahu und mit ihm einige Minister des rechten Flügels haben diesen Mord sofort vehement verurteilt. Netanjahu erschien zu einem Beileidsbesuch im Krankenhaus und brachte seine Erschütterung zum Ausdruck. Sein Auftreten war menschlich, authentisch, richtig und notwendig. Fragen aber muss man sich, wie es dem Ministerpräsidenten und seinen Ministern immer wieder gelingt, die Verbindung zwischen dem Feuer, das sie bereits seit zwanzig Jahren schüren, und diesem neuen Brandanschlag völlig zu ignorieren.

Wieso entgeht ihnen der Zusammenhang zwischen der nun schon achtundvierzigjährigen Besatzung und der düsteren, fanatischen Realität in den Grenzregionen des israelischen Bewusstseins, die täglich um sich greift? Diese Realität streckt ihre Fühler zurzeit auch zum politischen Zentrum aus und gewinnt in der israelischen Bevölkerung, in der Knesset und im Kabinett an Legitimität und Akzeptanz.

Die Auslöschung der verhassten Menschen

In unbeirrter Verneinung der Wirklichkeit verschließen der Ministerpräsident und seine Anhänger die Augen vor der irrigen Auffassung, die sich im Bewusstsein der Besetzer im Verlauf von fast fünfzig Jahren unaufhaltsam eingenistet hat: dass es zwei Arten von Menschen gibt. Die eine Art ist der anderen unterworfen und scheint deswegen von Natur aus weniger wert zu sein. Der Unterworfene ist, wie soll ich sagen, ein geringerer Mensch als der Besetzer. Diese Anschauung ermöglicht es Personen mit einer bestimmten seelischen Konstruktion offenbar, dem anderen, auch wenn er nur anderthalb Jahre alt ist, mit erschreckender Leichtigkeit das Leben zu nehmen.

In diesem Sinne stehen die beiden Gewalttaten vom Wochenende, die Messerstecherei bei der Jerusalemer Gay Parade und der Brandanschlag auf ein Baby, miteinander in Verbindung, denn sie entspringen einer ähnlichen Geisteshaltung. In beiden Fällen drängt der blinde, archaische Hass zum Mord, zur Auslöschung der verhassten Menschen.

Messerattacke eines fanatischen Siedlers auf die Gay Parade in Jerusalem; Foto: Getty Images/L. Mizrahi
Abgrundtiefer Hass: Ein ultraorthodoxer Jude hatte Anfang August sechs Teilnehmer der Jerusalemer "Gay Parade" mit einem Messer verletzt. Ein 16-jähriges Mädchen erlag vor kurzem ihren Verletzungen.

Der Mann, der das Haus der Familie Dawabsche in Brand setzte, wusste nichts von seinen Bewohnern, nichts von ihren Wünschen und Sehnsüchten. Er wusste nur, dass sie Palästinenser waren, und das genügte ihm und seinen Befehlshabern. Das heißt, ihr bloßes Dasein war Grund genug, sie vom Erdboden tilgen zu wollen.

Ein Kompromiss mit diesen Kräften ist nicht möglich

Schon seit mehr als hundert Jahren drehen Palästinenser und Israelis sich im Teufelskreis von Mord und Rache. In ihrem Kampf gegen uns haben die Palästinenser Hunderte von israelischen Kindern ermordet, ganze Familien getötet und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.

Auch der Staat Israel hat in seinem Kampf gegen die Palästinenser mit Hilfe von Flugzeugen, Panzern und Scharfschützen Ähnliches getan. Was vor einem Jahr während der Militäroperation „Zuk Eitan“ („Fels in der Brandung“) im Gazastreifen geschah, ist uns noch in frischer Erinnerung. Doch der Prozess mit seinen bösartigen Auswüchsen und Verästelungen, der sich innerhalb des israelischen Staates vollzieht, ist auf andere, trügerische Weise zerstörerisch.

Die israelische Führung scheint immer noch nicht zu begreifen – oder sie mag sich diese ihr unerträgliche Tatsache nicht eingestehen –, dass der jüdische Terror, den sie in sich birgt, ihr den Kampf angesagt hat. Und nun ist sie unfähig, zu ängstlich oder zu ambivalent, diese Kampfansage zu entschlüsseln und in deutlichen Worten darzustellen.

Von Tag zu Tag entfalten sich bei uns finstere fanatische, in ihrem Extremismus hermetische Elemente, entzünden sich selbst im religiös-nationalistischen Feuer und sind blind gegenüber den Grenzen, die die Wirklichkeit, die Moral und der gesunde Menschenverstand ihnen setzen sollten. Wie im Rausch verfangen sie sich in den aberwitzigsten Verstrickungen, deren die menschliche Seele fähig ist. Je unsicherer die wirtschaftliche Lage, desto besser gedeihen sie. Ein Kompromiss mit diesen Kräften ist nicht möglich.

Rigoroses Vorgehen gegen den Terror

Die israelische Regierung muss gegen sie genauso rigoros vorgehen wie gegen den palästinensischen Terror, denn sie sind nicht weniger gefährlich und nicht weniger entschlossen. Es handelt sich um totalitäre Extremisten, und diese sind, wie bekannt, zu extremen Fehlhandlungen fähig, wie es beispielsweise ein Attentat auf die Moschee des Tempelbergs wäre, ein Attentat, das Israel und den ganzen Nahen Osten mit großer Wahrscheinlichkeit ins Verderben stürzen würde.

Ob eine Untat wie das Verbrennen eines Säuglings Israels Rechte zur Besinnung bringt? Wird sie endlich begreifen, was die Wirklichkeit ihr schon seit Jahren entgegen schreit? Dass nämlich die Fortdauer der Besatzung und das Ausbleiben eines Dialogs mit der anderen Seite das Ende Israels als Staat des jüdischen Volks und als Demokratie besiegeln könnten? Als Ort, mit dem junge Menschen sich identifizieren, in dem sie leben und ihre Kinder erziehen möchten?

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu; Foto: Reuters/D. Balilty
"Erkennt Netanjahu in aller Klarheit, dass in den Jahren, in denen er sich ganz und gar der Torpedierung des Iran-Abkommens gewidmet hat, hier im Land eine höchst gefährliche Situation entstanden ist, nicht weniger gefährlich als die Bedrohung durch Iran, und dass er dieser Situation gegenüber rat- und hilflos wirkt?", schreibt Grossman.

Erkennt Netanjahu in aller Klarheit, dass in den Jahren, in denen er sich ganz und gar der Torpedierung des Iran-Abkommens gewidmet hat, hier im Land eine höchst gefährliche Situation entstanden ist, nicht weniger gefährlich als die Bedrohung durch Iran, und dass er dieser Situation gegenüber rat- und hilflos wirkt?

Symptome einer gesellschaftlichen Erkrankung

Wie wir aus dieser Kalamität herauskommen und zur Normalität zurückkehren könnten, ist schwer zu sagen. Durch ihre Nachgiebigkeit angesichts des Aktivismus der Siedler, durch ihre innere Übereinstimmung mit ihnen, haben Netanjahu und seine Freunde (und auch die meisten seiner Amtsvorgänger) diesen Vorgängen Vorschub geleistet, und nun sind sie von der Wirklichkeit eingeholt worden und sehen ihr erschrocken und wie gelähmt zu.

Seit Dutzenden von Jahren schon zeigt der Staat Israel den Palästinensern seine dunkle Seite, und diese Dunkelheit sickert seit längerem auch nach innen. Das hat sich nach dem letzten Wahlsieg Netanjahus beschleunigt, denn seitdem gibt es keine Instanz mehr, die sich der räuberischen Rücksichtslosigkeit der Rechten entgegenstellen würde. Untaten wie das Verbrennen eines Babys sind Symptome einer tiefsitzenden gesellschaftlichen Erkrankung und konfrontieren uns Israelis unerbittlich mit dieser Diagnose. Sie verkünden in feurigen Lettern, dass das Tor zu einer besseren Zukunft sich allmählich schließt.

David Grossman

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015