Gerichtsurteil stärkt die Aleviten in der Türkei

Die Aleviten in der Türkei haben vor dem obersten Berufungsgericht einen kleinen, aber wichtigen Sieg errungen. Seit Jahrhunderten ist die Glaubensrichtung ein fester Teil der Türkei - wurde aber immer wieder verfolgt.

Es mag sich kleinlich anhören, doch für die alevitische Gemeinde in der Türkei ist es ein bedeutender Sieg. Ende November hat das Berufungsgericht der Türkei entschieden, dass der Staat die Stromrechnung für die alevitischen Gotteshäuser bezahlen muss. Vorangegangen war ein jahrelanger Streit der Gemeinde mit der türkischen Regierung. Schon 2016 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass Ankara für die Kosten aufkommen müsse. Das Urteil wurde auch von der obersten türkischen Kammer bestätigt. Nur war Ankara der Aufforderung nie nachgekommen. Die Gemeinde hatte sich seitdem geweigert, Strom- und Wasserrechnungen zu begleichen.

In den vergangenen zwei Jahren häuften sich deshalb bei den Cemevleri, den alevitischen Gotteshäusern, stattliche Summen an. Die Stromversorger aber "wagten nicht", den Strom abzustellen, sagte Izzettin Dogan, Vorsitzender der Cem-Stiftung, einer führenden Organisation der Aleviten, dem Magazin "Al-Monitor": "Sie hätten es sonst mit der gesamten Gemeinde zu tun bekommen."

Den Aleviten geht es um die Anerkennung als Religionsgemeinschaft. Eigentlich ist es Aufgabe der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, sich für die Belange aller Glaubensrichtungen der Türkei einzusetzen. Immer wieder aber gerät die Behörde in die Kritik, Steuergelder ausschließlich der sunnitischen Mehrheit zukommen zu lassen. Zuletzt sorgte die Meldung für Aufruhr, dass das Budget der Diyanet inmitten der Wirtschaftskrise um 36 Prozent erhöht wurde.

Das Verhältnis der alevitischen Gemeinde zur AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan ist schlecht. 2013 weigerte sich Erdogan, damals noch Ministerpräsident, Cemevleri als mit Moscheen gleichwertige Gotteshäuser anzuerkennen. Später änderte er indes in der Öffentlichkeit seine Meinung, und versprach den Aleviten mehr Gleichberechtigung.

Rund 12,5 Millionen Türken, etwa 15 Prozent der Bevölkerung, bezeichnen sich laut Schätzungen als Aleviten. Die meisten von ihnen leben in Zentralanatolien, wobei es als Folge der Urbanisierung der vergangenen Jahrzehnte auch in Istanbul und Ankara große Gemeinden gibt. Die Glaubensrichtung hat ihren Ursprung in turkmenischen Stämmen, die im 13. und 14. Jahrhundert nach Anatolien einwanderten. In der Lehre gibt es Parallelen zum schiitischen Islam, da auch Aleviten den Imam Ali, Vetter des Propheten Mohammed, hoch verehren.

Trotzdem sind sie nicht einfach ein Zweig dieser Form des Islam, der Schia. Viele sehen im Alevitentum eine eigenständige Glaubensrichtung, die nicht mehr zum Islam gehört. Aleviten beten nicht in Moscheen, sondern eben in "Cemhäusern", meist privaten Versammlungsstätten. Den Koran legen sie nicht wörtlich aus. Männer und Frauen beten zusammen. Die Frauen tragen gewöhnlich kein Kopftuch und auch die islamischen Speisevorschriften gelten unter Aleviten nicht.

In der Geschichte kam es deshalb immer wieder zu Verfolgungen, Ausschreitungen und Pogromen gegen die alevitische Gemeinde. Nach dem fehlgeschlagenen Putsch vom 16. Juli 2016 fürchteten viele Aleviten um ihre Sicherheit. In den ersten Tagen nach dem Putsch erlebte Istanbul einige Übergriffe auf Aleviten.

Unvergessen ist für viele der Brandanschlag von Sivas: Am 2. Juli 1993 steckte ein Mob in der südtürkischen Stadt ein Hotel in Brand, in dem eine alevitische Hochzeitsgemeinschaft feierte. Ziel war wohl der Schriftsteller Aziz Nesin, der zuvor das Buch "Die Satanischen Verse" von Salman Rushdie ins Türkische übersetzt hatte. 37 Menschen starben damals, während eine Meute vor dem Gebäude johlte. Warum die Stadtverwaltung damals nicht früher eingriff, ist bis heute ungeklärt.

Unter den Osmanen wurden Aleviten als Häretiker verfolgt, immer wieder kam es zu Pogromen, weshalb viele Aleviten den Republikgründer Kemal Atatürk als Befreier empfanden. 1937 aber starben bei der Niederschlagung des Aufstands von Dersim auch tausende kurdische Aleviten.

Alarmierend empfanden es viele Aleviten, als die 2016 fertiggestellte dritte Bosporus-Brücke nach dem Sultan Yavuz Selim benannt wurde. Der Sultan soll im 16. Jahrhundert mehr als 40.000 Aleviten ermordet haben.

In Deutschland ist die alevitische Gemeinde unter den türkischen Einwanderern überdurchschnittlich groß. Schätzungen zufolge leben hierzulande zwischen 400.000 und 700.000 Aleviten. (KNA)