Gegen Hunger, Cholera und Ideologie: Der Jemen braucht Milliardenhilfen

Der Bürgerkrieg im Jemen gilt als die derzeit schlimmste humanitäre Katastrophe der Welt. Auf einer Geberkonferenz will die internationale Gemeinschaft mehr als vier Milliarden US-Dollar sammeln. Aber die Lücke ist noch groß. Von Simon Kremer und Christiane Oelrich

In den Schulen im Jemen zeigt sich das Dilemma des Krieges. «Nichts ist hier mehr so, wie vor dem Krieg», erzählt Hajat Said. Als eine der wenigen Lehrerinnen im Land geht die 47-Jährige noch regelmäßig zum Unterricht. Umgerechnet etwa 75 Euro bekommt sie dafür im Monat. Nicht von der Regierung, die schon vor Jahren die Hauptstadt Sanaa verlassen hat und aus dem Exil heraus regiert. Auch nicht von den Huthi-Rebellen, die Sanaa übernommen haben. Sondern von einem deutsch-jemenitischen Hilfsverein, der in dem Lehrergehalt mehr sieht, als nur Unterstützung zum Überleben.

Die Vereinten Nationen bezeichnen den Bürgerkrieg als die aktuell schlimmste humanitäre Katastrophe der Welt. Schon vor Kriegsbeginn im Jahr 2014 galt der Jemen als das Armenhaus der Arabischen Halbinsel. Seitdem hat sich die Zahl der Hilfsbedürftigen Menschen drastisch erhöht: Mehr als 24 Millionen Menschen benötigten Hilfe oder Schutz, sagte Lise Grande, UN-Hilfskoordinatorin für den Jemen, vor einer geplanten Geberkonferenz. Das sind rund 80 Prozent der Bevölkerung.

Im September 2014 hatten die vom Iran unterstützten Huthi-Milizen die Hauptstadt Sanaa und große Gebiete des Nordjemens übernommen. Kurz darauf griff eine von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition in den Konflikt ein und unterstützt die international anerkannte Regierung von Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi seitdem vor allem aus der Luft. Die Infrastruktur des Landes ist vielerorts zerstört, immer wieder werden Schulen und Krankenhäuser getroffen. Im vergangenen Jahr hatte ein schwerer Cholera-Ausbruch mit mehr als einer Million Kranken die Lage für die Menschen noch einmal drastisch verschärft.

«Mein Mann hat wegen des Krieges seinen Job verloren und ich habe kein Gehalt mehr bekommen. Wie soll man so leben?», klagt Lehrerin Hajat Said. Vier Kinder hat die Familie zu ernähren. Und die Preise steigen, seit die saudische Koalition eine Blockade über den Flughafen Sanaa und die Häfen am Roten Meer verhängt hat.

Der Verein aus Bayern, Hajati Karamati («Mein Leben, meine Würde»), will genau da helfen. «Es geht einmal um die Lehrer, dass die wieder ihre Familien ernähren können», sagt der Vorsitzende, Said al-Dailami. «Und es geht darum, dass die nächste Generation nicht verloren geht.» An einigen Schulen zahlten die Huthis zwar noch Gehälter, aber nur an Lehrer, die «ideologisch auf Linie» seien. Bis zu 4.000 Kindersoldaten, schätzt al-Dailami, gebe es im Jemen.

Mit umgerechnet 75 Euro pro Monat unterstützt der Verein 72 Lehrer an zwei Schulen im Nordjemen. Es sei nur ein kleiner Beitrag. «Das Problem liegt im mangelnden Bewusstsein für die Krise im Jemen», sagt Al-Dailami. «Man ist fixiert auf andere Krisenherde.»

Die Vereinten Nationen brauchen in diesem Jahr 4,2 Milliarden Dollar (3,7 Millionen Euro) für den Jemen, so viel wie für kein anderes Land. Sie wollen unter anderem Hungernde mit Essen versorgen, Trinkwasser aufbereiten, Bedürftige medizinisch versorgen, Schulen am laufen halten und Vertriebenen Unterkunft geben.

In den Straßen von Sanaa müssen viele Menschen inzwischen betteln. «Wenn wir hier kleine Arbeiten ausschreiben, etwa Lager aufräumen, bewerben sich 500 Menschen», sagt der Chef des Rotkreuz-Büros in Sanaa, Franz Rauchenstein. «Unsere Mitarbeiter müssen mit ihrem Lohn von etwa 1.500 Dollar 100 Verwandte mit ernähren.» Noch größer sei aber die Not auf dem Land, wo die meisten Menschen lebten. In dem gebirgigen Land seien viele Regionen schwer zu erreichen.

Hinzu käme häufig das Misstrauen der lokalen Behörden, sagen Hilfsorganisationen. «Man kann die Menschen kaum erreichen», berichtet Ibtisam al-Sawaani von Vision Hope. «Manche Menschen sterben, während ich auf eine Genehmigung warte.»

Das Welternährungsprogramm WFP, die größte humanitäre Organisation der Welt, ist jeden Tag mit 300 Lastwagen unterwegs, um Millionen Menschen zu versorgen. Misstrauen der Kriegsparteien und Bürokratie, um Passierscheine zu erhalten, seien zermürbend, sagt auch der WFP-Chef in Sanaa, Stephen Anderson. Die Nerven lägen vielerorts blank: «Die bemerkenswerte Wiederstandfähigkeit der Menschen bröckelt langsam.»

Auch, wenn das Elend nicht durch eine Naturkatastrophe, sondern Machtkämpfe ausgelöst sei, appelliert Anderson an Spender: «Die Mutter mit dem schwer unterernährten Sohn im Krankenhaus, die hungernden Zivilisten, sie haben den Krieg nicht ausgelöst.» Das Land im Elend versinken zu lassen wäre ein Desaster für die ganze Welt. (dpa)