Eine zweite Revolte für Scheherazades Töchter

Frauen markierten in den Tagen der ägyptischen Revolte unübersehbar Präsenz – unbehelligt von den sonst im Land so häufigen sexuellen Belästigungen. Aber seit dem Abgang Mubaraks, schreibt die Schriftstellerin Mansura Eseddin, scheint sich das Blatt wieder gegen die Ägypterinnen zu wenden. Von Mansura Eseddin

Von Mansoura Ez-Eldin

In den "Märchen aus Tausendundeiner Nacht" tötet der König Schahriar, von wahnwitziger Rachsucht getrieben, jede Nacht eine Frau – bis Scheherazade kommt, die sich selbst und ihre Schicksalsgefährtinnen mit der Waffe der Erzählkunst rettet.

Schön und äußerst belesen, umgarnt sie den König der Könige mit Scherzen und verführt ihn durch die Macht des Wissens. Der Zauber ihrer Erzählungen überwindet den Tod und verscheucht seine Gespenster. Mit all ihrer Kunst und Faszinationskraft sprechen die "Märchen aus Tausendundeiner Nacht" jedoch auch deutlich genug vom Frauenhass. Und sie erteilen uns eine grundlegende Lehre: Wissen befreit!

Utopia in Kairo

Diese alte, doch nie überholte Lektion gilt auch im Kontext der Revolution und mit Blick auf die Rolle, welche die Frauen dabei spielten. Die ägyptischen Enkelinnen Scheherazades marschierten während der Tage des Umsturzes in der ersten Reihe mit. Sie begnügten sich nicht damit, wie Scheherazade – die eine Tochter ihrer Zeit und der damals herrschenden Verhältnisse war – den Henker zu bestricken, einzuwiegen und zu besänftigen, sondern sie stellten sich mutig einem brutalen Sicherheitsapparat entgegen. Sie standen im Herzen der Revolte und verliehen ihr ihr schönstes Gesicht.

Frauen in Kairo während einer Protestkundgebung gegen das ägyptische Regime auf dem Tahrir-Platz; Foto: dpa
Mitunter die ersten, die den Sturz Mubaraks verlangten: Frauen in Kairo während einer Protestkundgebung gegen das ägyptische Regime auf dem Tahrir-Platz

​​Wir sahen verschleierte und unverhüllte Mädchen, die, auf den Schultern ihrer männlichen Gefährten getragen, mit glühender Begeisterung ihre Parolen riefen. Wir sahen hochbetagte, schwarzgekleidete Frauen, die sich mühseligen Schrittes auf die Straßen wagten, obwohl sich das Land in einen Kriegsschauplatz zu wandeln drohte; sie verteilten Orangen an die Soldaten und die Offiziere der Staatssicherheit und flehten sie – vergeblich – an, nicht auf ihre demonstrierenden Brüder und Landsleute zu schießen.

Am 28. Januar, dem "Freitag des Zorns", rief der Freitagsprediger die Betenden zu Gehorsam und Demut gegenüber dem Landesherrn auf und legte ihnen nahe, sich ihrer Rechte dereinst in der Ewigkeit des Paradieses zu erfreuen, statt sie schon in dieser vergänglichen Welt einzufordern.

Trotzdem waren Frauen – und zwar einfache Frauen mit langen Gewändern und Schleiern – unter den Ersten, die, kaum war das Gebet vorüber, nach dem Sturz Mubaraks riefen. Dies waren keine gebildeten Frauen in Führungspositionen; dennoch hielten sie, an der Seite ihrer männlichen Kampfgefährten, den Feuerbrand der Revolte lebendig.

Diese aktive Teilnahme an der Revolution, am Ringen um Freiheit und Rechte zeugt von Wissen – vom Wissen um die eigene Situation und um die Welt und vom Verlangen danach, am Wandel teilzuhaben. Und es ist mehr als ein netter Zufall, dass der "Tag der ägyptischen Frau", der am 16. März begangen wird, insbesondere der Erinnerung an die Ägypterinnen gewidmet ist, die in der Revolution von 1919 gegen die englische Besatzung kämpften.

Während der ersten achtzehn Tage der Revolte ähnelte der Tahrir-Platz einem irdischen Paradies, einem Utopia, wo die Schranken zwischen den Menschen fielen. Die Demonstrierenden schüttelten ihre altvertrauten Rollen und Verhaltensmuster ab; es gab keinen Unterschied mehr zwischen Mann und Frau, Christ und Muslim, dem einfachen Arbeiter und dem berühmten Intellektuellen.

Diese Tage markierten eine Art befristeten Ausnahmezustand, in dem jeder von uns aus seinem alten Selbst schlüpfen und es betrachten konnte und dabei überrascht feststellte, dass es ja zum Wandel fähig war – fähig, zunächst sich selbst zu verändern und dann an der Veränderung der Welt ringsum mitzuwirken.

Nur eine kurze Atempause

Auf dem Platz der Freiheit und in den umliegenden Straßen, wo Millionen zusammenströmten, war auch nichts mehr von den sexuellen Belästigungen zu spüren, die sonst integraler Bestandteil des Kairoer Alltags sind; hier, mitten im Getümmel, war für Frauen der sicherste Ort in ganz Ägypten.

Frauen in Kairo während der Proteste gegen Mubarak; Foto: Samir Grees/DW
"Während der ersten achtzehn Tage der Revolte ähnelte der Tahrir-Platz einem irdischen Paradies, einem Utopia, wo die Schranken zwischen den Menschen fielen", schreibt Mansura Eseddin.

​​Aber kaum war Mubarak abgetreten, zeigte das revolutionäre Ägypten ein ganz anderes Gesicht. Am für den Internationalen Frauentag geplanten Millionenmarsch nahmen nur einige hundert Frauen teil, und ihr Demonstrationszug wurde mit Missbilligung und Spott überschüttet; die Teilnehmerinnen wurden belästigt und zur Krönung des Ganzen als "Töchter Suzanne Mubaraks" geschmäht, weil sie für die Rechte der Frau eintraten.

In dem vom Militärrat mit der Verfassungsrevision beauftragten Ausschuss sitzt keine einzige Frau, in den konservativen Strömungen werden Frauen übergangen, in der neuen Regierung sucht man sie bis dato ebenfalls weitgehend vergeblich. Und in den vergangenen Monaten wurden die Stimmen immer lauter, die eine Revision des Personenstandsgesetzes und die Streichung des Artikels fordern, der es Frauen erlaubt, selbst die Scheidung einzureichen, statt jahrelang in den Gängen des Zivilgerichts auf ein Scheidungsurteil zu warten, das nie ausgesprochen wird.

Plötzlich scheinen gewisse Leute der Ansicht zu sein, das Gesetz vertrage sich nicht mit der islamischen Scharia, und so wird auch dieser Paragraf als "Suzanne-Mubarak-Gesetz" verteufelt – in totaler Missachtung der Tatsache, dass er die Frucht eines Kampfes ist, den ägyptische Frauenrechtlerinnen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufnahmen.

Der massivste Schlag gegen die ägyptischen Frauen, ihre Rechte und ihre Integrität kam jedoch vonseiten des Obersten Militärrats, der Anfang März eine Gruppe auf dem Tahrir-Platz verhafteter Demonstrantinnen nicht nur einem Militärgericht vorführte, sondern sie obendrein einem Jungfräulichkeitstest unterzog. Das nimmt sich aus wie eine neue Art sexueller Belästigung, die darauf abzielt, die Ehre der Verhafteten in den Dreck zu ziehen und sich dafür zu rächen, dass sie an der Revolte teilhaben wollten.

Der Militärrat bestritt zunächst die Meldungen über diese Übergriffe; dann gab sie ein General gegenüber dem Sender CNN zu und suchte sie mit dem Argument zu rechtfertigen, die betroffenen Frauen hätten ja zuvor über längere Zeit an einem Sitzstreik auf dem Tahrir-Platz teilgenommen und dabei im selben Zelt mit Männern gelebt: Da hätten die Sicherheitskräfte halt gleich nach der Verhaftung feststellen wollen, wer keine Jungfrau mehr sei, damit nicht plötzlich noch eine behaupten könne, sie sei während der Haft missbraucht worden!

Suzanne Mubarak; Foto: dpa
Als "Töchter Suzanne Mubaraks" diffamiert: Gegen Ägyptens ehemalige First Lady ermittelte die ägyptische Justiz wegen illegaler Bereicherung.

​​Der Herr brachte dies vor, ohne mit der Wimper zu zucken – als Ausdruck eines nachgerade kranken patriarchalen Denkens, das davon ausgeht, dass nur gerade einer Jungfrau das Recht zustehe, sich über einen sexuellen Übergriff zu beklagen; einer patriarchalen Blindheit gegenüber der Tatsache, dass dieser schändliche Test für die Betroffenen kaum weniger verletzend und beleidigend war als eine Vergewaltigung.

Wenn ich den Jungfräulichkeitstest – dieses unappetitliche Relikt einer finsteren Vergangenheit – zusammen mit den übrigen Erscheinungsformen sexueller Belästigung betrachte, dann scheint es mir, dass diese zumindest teilweise gar nicht der Lust entspringen, sondern vielmehr dem Verlangen, zu verletzen und zu beleidigen; einem Verlangen, die Frau für ihre Präsenz im öffentlichen Raum zu bestrafen, den die Männer nach wie vor als ihre Domäne betrachten – sie zu bestrafen für eine Sünde, die sie gar nicht begangen hat, nämlich für ihre schiere Existenz.

Paranoia

Eine meiner Freundinnen zählt nachgerade obsessiv, wie oft sie an einem Tag belästigt worden ist. Wir können in irgendein Thema vertieft sein – plötzlich unterbricht sie das Gespräch mit der Bemerkung: "Heute bin ich auf dem Heimweg von der Arbeit siebenmal angemacht worden!"

Mir scheint, dass sie durch diese Zählerei ganz auf die Anzüglichkeiten fixiert ist und alles, was sie sieht und hört, auf mögliche sexistische Untertöne hin prüft. Es ist klar, dass sie unter einer Phobie leidet – wahrscheinlich empfindet sie es bereits als Belästigung, wenn ein Mann ihr guten Morgen wünscht. Aber während der Tage der Revolution war meine Freundin mit einem Schlag von ihrer Obsession befreit; sie bewegte sich unbefangen im dichtesten Gewühl, fühlte sich wohl in ihrem Körper und mit der Welt rundum und nahm sich nicht mehr als Opfer wahr.

Doch mittlerweile sind wir wieder beim Status quo ante, und meine Freundin sagt – zu Recht –, dass wir nach der politischen nun auch eine gesellschaftliche und kulturelle Revolution brauchen. Eine Revolution gegen die herabsetzende Behandlung der Frau, gegen Ignoranz und längst überholte Traditionen. Damit ist den Frauen in der Revolution eine doppelte Rolle auferlegt: Sie haben nicht nur gegen die Diktatur, sondern gleichzeitig auch gegen ein längst erstarrtes, rückwärtsgewandtes Gesellschaftsbild anzukämpfen.

Mansura Eseddin

© Neue Zürcher Zeitung 2011

Aus dem Arabischen von Angela Schader

Mansura Eseddin, 1976 im Nildelta geboren, ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie arbeitet bei der bekannten Literaturzeitschrift "Akhbar al-Adab" und gilt als eine der vielversprechendsten Autorinnen arabischer Sprache. Im August erscheint ihr Roman "Hinter dem Paradies" auf Deutsch beim Unionsverlag.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de