Frankreichs Terrorprozess - Ein Schritt, der nicht heilen kann

Aus einer Geburtstagsfeier wird in der Anschlagsnacht des 13. November 2015 in Paris der blanke Horror. Jahre später rollt der Terrorprozess die Geschehnisse auf. Für die Opfer birgt das Hoffnung - aber auch Enttäuschung und Gefahren. Von Rachel Boßmeyer, dpa



Paris. Schüsse fallen, eine kurze Pause, dann wieder Schüsse. Und dann Verwirrung, Chaos und eisige Stille. Das Gesicht der jungen Frau färbt sich rot, als sie im Pariser Justizpalast von der Nacht erzählt, in der ihr Freund in der Bar «Belle Équipe» starb. Sie berichtet vom 13. November 2015, an dem 130 Menschen bei den islamistischen Anschlägen in und bei Paris brutal getötet wurden. Ihr Freund war einer davon.



In einem riesigen Prozess wird die Schreckensnacht seit Anfang September juristisch aufgearbeitet. 20 Verdächtige müssen sich in dem Verfahren für die Anschlagsserie verantworten, die neben der vielen Toten auch 350 Verletzte zur Folge hatte. Die gesellschaftliche und persönliche Aufarbeitung ist aber lange nicht so geradlinig wie dieser Prozess.



Frankreich hat sich seit den Anschlägen verändert. Auf den Straßen sind mehr Polizisten und Soldaten zu sehen. Weil Terror nicht mehr nur aus dem Ausland organisiert wird, sondern sich auch auf interne Kräfte etwa in manchen Vorstädten und Moscheen stützt, besteht die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft - so sieht das der Politikwissenschaftler Cyrille Bret.



Doch Frankreich kennt den Terror schon lange, leidet gewissermaßen unter einem Terrortrauma, das von früher rührt. Lediglich für die junge Generation sei die Anschlagsserie von 2015 besonders prägend gewesen, Ältere erinnerten sich etwa an Attentate zu Zeiten des blutigen Algerienkriegs von 1954 bis 1962, meint Bret. Und doch geht mit den Anschlägen vom November 2015 ein entscheidender Wandel einher: «Alle denkbaren Öffentlichkeiten sind bedroht», sagt Bret - nicht mehr nur bestimmte Berufsgruppen oder Konfessionen.



Selbstmordattentäter sprengten sich 2015 im Stade de France in die Luft. Islamisten schossen im Konzertsaal «Bataclan» und in mehreren Bars und Restaurants im Osten der Hauptstadt um sich. Für viele waren die Anschläge damit auch ein Angriff auf die Lebenslust, auf die französische Lebensart, berichtet Olivia Mons von der Opferhilfestelle France Victimes. Das mache auch Außenstehenden das Leben schwer. Für die direkt Betroffenen seien die Folgen drastisch: Mentale Gesundheit, Arbeit, Familie, Sozialleben - all das sei auf den Kopf gestellt worden, sagt Mons.



Die 27-Jährige, die auf einer Geburtstagsfeier in der «Belle Équipe» ihren Freund verloren hat, erzählt im Prozess, dass sie heute nicht mehr in das Viertel rund um die Bar gehen könne. «Das bringt zu viele Erinnerungen hoch. Daran, was ich war und nicht mehr bin.» Ihr Freund hatte sich bei dem Angriff schützend auf sie gelegt. Eine Kugel traf ihren Arm. Doch im Gegensatz zu ihm überlebte sie. Eine 40 Jahre alte Frau, die ebenfalls bei der Feier in der «Belle Équipe» war, erzählt von Depressionen, dass sie sich monatelang nicht auf die Straße getraut habe, von Alpträumen und Angst noch heute.



Der Prozess ist für die beiden Frauen nun erst einmal ein Schritt, erzählt Mons. Er könne Antworten auf einige Fragen geben, aber genauso auch frustrieren, enttäuschen und retraumatisieren. «Ich hoffe, dass es mir hilft, mit den Fragen, die mich quälen, und hilft, zu realisieren, was passiert ist», sagt die Ältere der beiden. Denn sechs Jahre später habe sie das immer noch nicht erfasst. Die 27 Jahre alte Pariserin hingegen will politische Antworten.



Eine grundlegende Änderung, schätzt Terrorexperte Bret jedoch, wird es in Frankreich beim Thema Terrorismus nicht geben. Letztlich sei Terror als Form der politischen Gewalt eine omnipräsente Gegebenheit im französischen Sozialleben. «Wir wissen, dass wir die Anschlagsgefahr reduzieren können», doch gebe es in Frankreich nicht den naiven Glauben, den Terrorismus ausrotten zu können. Der Prozess sei vor allem wichtig, um die Taten nicht unbestraft zu lassen.



Fest steht für Mons von der Opferberatung aber auch: «Der Prozess heilt nicht. Der Prozess ermöglicht nicht, zu heilen.» Denn dies sei ein sehr persönlicher Weg. Die Herausforderung dabei: Akzeptieren, dass das Leben stärker ist.



Die Stärke im Weiterleben ist auch in den Aussagen der beiden Frauen deutlich spürbar. «Mein Leben hat nicht aufgehört, weit gefehlt», sagt die 40-Jährige, die ihre Freundin auf der Geburtstagsfeier verloren hat. Die Mittzwanzigerin beteuert mit fester Stimme: «Ich werde weiter leben, ich werde weiter lieben.» Die Opfer seien verbunden, sie alle lebten mit einem Herzen, das immer wieder aus dem Takt gerät, erzählt sie. Und sie alle seien entwurzelt worden. Doch vielleicht schauten sie ohne Wurzeln häufiger in die Sterne. (dpa)