Union der Unwilligen

Der Syrienkonflikt entlarvt die völkerrechtliche "Schutzverantwortung" und die gemeinsame Außenpolitik der EU als Mythos und Wunschtraum, meint Andreas Zumach in seinem Kommentar.

Von Andreas Zumach

Mindestens 80.000 Tote, vier Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene sowie die Zerstörung jahrtausende alter Städte und kostbarer, unwiederbringlicher Kulturgüter: die Opfer und Kosten des Bürgerkrieges in Syrien sind dramatisch.

Darüber hinaus hat der nun schon über zwei Jahre anhaltende bewaffnete Konflikt zwei Behauptungen als Mythos und Wunschtraum entlarvt, die insbesondere in westlichen Hauptstädten seit Ende des Kalten Krieges zum Standardrepertoire vieler Politiker geworden sind: die Behauptung, es gebe eine "Schutzverantwortung" ("Responsibility to Protect") der internationalen Staatengemeinschaft in Fällen von Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen. Und die Behauptung, die Mitgliedsländer der Europäischen Union hätten eine gemeinsam Außen- und Sicherheitspolitik.

Verantwortung der UNO

Das Konzept der Schutzverantwortung wurde nach den Völkermorden in Ruanda und im bosnischen Srebrenica Mitte der 1990er Jahren wesentlich auf Betreiben Kanadas entwickelt. Es besagt: Wenn eine Regierung nicht in der Lage oder nicht willens ist, die Bevölkerung des eigenen Landes vor Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, geht die Verantwortung zum Schutz auf die UNO über.

Sitzung des UN-Sicherheitsrates zu Syrien, Foto: dapd
Machtvolles politisches Instrumentarium: "Ermächtigt durch ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates kann die Staatengemeinschaft politische und diplomatische Mittel, wirtschaftliche Sanktionen und – im Extremfall – auch militärische Instrumente einsetzen, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern oder zu beenden", schreibt Zumach.

​​Ermächtigt durch ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates kann die Staatengemeinschaft dann politische und diplomatische Mittel, wirtschaftliche Sanktionen und – im Extremfall – auch militärische Instrumente einsetzen, um die schweren Menschenrechtsverletzungen zu verhindern oder zu beenden. Derartige Menschenrechtsverletzungen gelten nicht mehr als rein "innere Angelegenheiten" eines Landes, in die – gemäß der UNO-Charta von 1945 – keine Einmischung von außen erlaubt ist.

Das Schutzkonzept wurde durch eine Entschließung eines UNO-Gipfeltreffens im Herbst 2005 zwar politisch abgesegnet, aber bislang nicht in ein von den UNO-Mitgliedsstaaten formell unterzeichnetes und ratifiziertes, und damit völkerrechtlich verbindliches Abkommen gegossen.

Daher ist die Verantwortung zum Schutz keineswegs bereits eine neue "völkerrechtliche Norm", wie manche Politiker auch in Berlin fälschlicherweise behaupten. Und sie ist auch noch nicht zum "Gewohnheitsvölkerrecht" geworden, nur weil sich der UNO-Sicherheitsrat in seiner Resolution vom März 2011 zur Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen erstmals ausdrücklich auf die "Responsibility to Protect" berief.

Doch diese völkerrechtliche Debatte ist völlig müßig angesichts der aktuellen Lage in Syrien. Ein politisches Einwirken zur Deeskalation des Konflikts seit seinem Beginn vor zwei Jahren wurde erst gar nicht ernsthaft versucht. Stattdessen profilierten sich US-Präsident Barack Obama und führende Regierungspolitiker in Paris, London und Berlin frühzeitig mit öffentlichen Forderungen nach dem Rücktritt Assads.

Fehlende Strategie des Westens

Als der syrische Präsident nicht gehorchen wollte, hatten die westlichen Regierungen keine Strategie, um ihre Forderungen durchzusetzen. Alle inzwischen verhängten wirtschaftlichen Sanktionen blieben wirkungslos.

Und vor einer militärischen Intervention in Syrien scheuen selbst jene zurück, die sich aus rein populistischen Motiven mit entsprechenden Forderungen öffentlich exponieren. Denn die Risiken sind ungleich größer als im Fall der NATO-geführten militärischen Intervention in Libyen vor zwei Jahren oder des anglo-amerikanischen Krieges gegen Irak im Frühjahr 2003.

Zum einen sind die syrischen Streitkräfte sehr viel stärker und besser ausgerüstet als seinerzeit die libyschen und die irakischen. Zweitens besteht die Gefahr einer militärischen Involvierung Irans, Israels, des Libanons und anderer Nachbarstaaten Syriens.

Demonstration gegen Assad bei Damaskus; Foto: dapd
Was kommt nach dem Ende Assads? "Inzwischen herrscht im Westen eine immer größere Unsicherheit und Sorge vor, wem man mit einer militärischen Intervention in Syrien letztlich helfen würde, und in wessen Hände nach einem Ende des Assad-Regimes die Kontrolle über das Land fallen könnte", so Zumach.

​​Und drittens herrscht in westlichen Hauptstädten inzwischen immer größere Unsicherheit und Sorge, wem man mit einer militärischen Intervention in Syrien letztlich helfen würde, und in wessen Hände nach einem Ende des Assad-Regimes die Kontrolle über das Land oder einzelne Teilregionen fallen könnte.

Schon bislang landete ein Großteil der Waffen, die seit Herbst 2011 mit Wissen und politischer Unterstützung der Obama-Administration und anderer westlicher Regierungen und mit Petrodollars aus Saudi-Arabien und Qatar für die "Freie Syrische Armee" beschafft wurden, tatsächlich bei den islamistischen Al-Nusra-Brigaden und anderen, mit Al-Qaida verbundenen Milizen.

Deren Propaganda richtet sich derzeit zwar auch gegen das Assad-Regime. Doch sie streben keine demokratische Nachfolgeregierung in Damaskus an, sondern wollen jede funktionsfähige Zentralmacht in Damaskus künftig verhindern; sie streben ihre Herrschaft über Teilgebiete des Landes an.

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als Wunschtraum

Angesichts dieser Unwägbarkeiten und schwierigen Herausforderungen erweist sich die Behauptung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU erneut als Wunschtraum. Das war bereits vor 20 Jahren der Fall, als diese Behauptung in Brüssel angesichts der Sezessions- und Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien erstmals lautstark propagiert wurde.

Die EU werde mit dieser Herausforderung in ihrer südöstlichen Nachbarschaft alleine fertig, und die USA sollten sich aus dieser europäischen Angelegenheit heraushalten, tönte 1991 der damalige EU-Ratsvorsitzende, Luxemburgs Außenminister Poos. Der Rest der Geschichte ist bekannt.

Im Fall Jugoslawien gab es keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, weil ihre drei Hauptmächte Frankreich, Großbritannien und Deutschland auf verschiedenen Seiten des innerjugoslawischen Konflikts standen.

Im aktuellen Fall Syrien sind es erneut unterschiedliche Interessen der drei EU-Führungsmächte, die eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas verhindern. Das zeigte sich zuletzt beim Gezerre zwischen Berlin, London und Paris um eine Verlängerung des EU-Waffenembargos gegen Syrien. Dabei spielt nicht zuletzt die wachsende Konkurrenz zwischen den drei EU-Mächten um die lukrativen Rüstungsexportmärkte am Persischen Golf eine Rolle.

Andreas Zumach

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Andreas Zumach, Jahrgang 1954, ist UNO-Korrespondent in Genf. Er ist gelernter Volkswirt, Journalist und Sozialarbeiter. Jüngste Veröffentlichung: "Die kommenden Kriege", Verlag Kiepenheuer & Witsch.