Europarat stellt Türkei wegen Menschenrechtsverletzungen unter Beobachtung

Angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen in der Türkei wird der Europarat das Land erneut unter verschärfte Aufsicht stellen. Dies beschloss die Parlamentarische Versammlung der Länderorganisation am Dienstag nach einer mehrstündigen kontroversen Debatte in Straßburg. Demnach wird die Versammlung das Mittelmeerland wieder einem so genannten Monitoring-Verfahren unterziehen.

Dies bedeutet, dass zwei Berichterstatter der Versammlung in regelmäßigen Abständen in die Türkei reisen und sich dort über die politische Lage informieren - in Gesprächen mit Regierungsvertretern, Parlamentarieren, Oppositionellen sowie Vertretern von Nicht-Regierungsorganisationen.

Acht Monate nach dem gescheiterten Putschversuch habe sich die Menschenrechtslage in der Türkei deutlich verschlechtert, hieß es in einer Entschließung der Versammlung. Die Medienfreiheit sei stark eingeschränkt, der Rechtsstaat deutlich geschwächt worden. Die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan nutze den nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustand, um Oppositionelle einzuschüchtern und Medien mundtot zu machen.

Die Versammlung forderte die Regierung in Ankara auf, die nach dem gescheiterten Staatsstreich vorgenommene Massenentlassung von rund 150.000 Beamten, Richtern, Polizisten und Hochschullehrern rückgängig zu machen. Außerdem müssten die etwa 150 inhaftierten Journalisten wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Das Gleiche gelte für zwölf Abgeordnete - vor allem Vertreter der pro-kurdischen HDP -, die seit November inhaftiert seien.

Während der mehrstündigen Debatte kritisierten zahlreiche Abgeordnete das Referendum vom 16. April, bei dem eine knappe Mehrheit der Wähler einer äußerst umstrittenen Verfassungsänderung zustimmte - und damit den Weg für eine erhebliche Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten ebnete. Der Wahlkampf sei nicht fair gewesen, betonte der österreichische Sozialdemokrat Stefan Schennach.

Mehrere Redner reagierten empört auf Erdogans Drohung, eine Volksbefragung zur Wiedereinführung der Todesstrafe zu organisieren. Die Rückkehr zur Todesstrafe sei mit der Mitgliedschaft im Europarat nicht vereinbar, sagte der französische Sozialist René Rouquet.

Vertreter der türkischen Delegation warfen der Versammlung vor, die Lage in der Türkei nicht richtig einzuschätzen. Die Entschließung sei "subjektiv", sie nehme etwa die Terrordrohungen der kurdischen Separatisten nicht zur Kenntnis, sagte Saban Disli von der Regierungspartei AKP.

Sprecher aller maßgeblichen Fraktionen verteidigten jedoch den Beschluss, die Türkei wieder unter verschärfte Aufsicht zu stellen. Dies sei keine "Sanktion", der Europarat müsse aber dafür sorgen, dass seine Regeln eingehalten werden, sagte der SPD-Abgeordnete Frank Schwabe.

Ziel des Monitoring-Verfahrens ist es zu überprüfen, ob ein Mitgliedstaat die Standards des Europarats in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einhält. Üblicherweise wird das "full monitoring" nach der Aufnahme eines Landes beschlossen und eingestellt, wenn die demokratische Lage als zufriedenstellend erachtet wird.

Die Türkei war zuletzt 1996 einer solchen Aufsicht unterzogen worden. Im Jahr 2004 hatte die Parlamentarier-Versammlung dem Land große Fortschritte bescheinigt und das Monitoring-Verfahren beendet. Damals lobten die Abgeordneten aus den 47 Europaratsländern vor allem die Abschaffung der Todesstrafe, den Kampf gegen Korruption und Folter sowie Fortschritte bei der Religionsfreiheit.

Einen Tag nach dem Beschluss des Europarats, sind bei einer landesweiten Razzia mehr als tausend mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung festgenommen worden. Es habe Festnahmen in 72 Provinzen gegeben, sagte Innenminister Süleyman Soylu am Mittwoch laut der Nachrichtenagentur Anadolu. Präsident Recep Tayyip Erdogan macht die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch vom vergangenen Juli verantwortlich.

In 72 Provinzen seien zunächst 1009 Menschen festgenommen worden, sagte der Innenminister. Demnach begannen die Razzien am Mittwochmorgen in 81 Provinzen und dauerten am frühen Nachmittag noch an. Allein in Istanbul seien 390 Haftbefehle erlassen worden. Soylu sprach von einem "wichtigen Schritt im Interesse der türkischen Republik".

Die Zeitung "Hürriyet" berichtete unter Berufung auf anonyme Quellen, landesweit seien Haftbefehle gegen insgesamt 7000 Verdächtige ausgestellt werden. Es gebe eine "Liste mit 7000 Namen". Bei den Razzien habe die Polizei mit dem türkischen Inlandsgeheimdienst MIT zusammengearbeitet. Der MIT steht im Verdacht, auch in Deutschland Anhänger der Gülen-Bewegung auszuspionieren.

Anadolu zufolge waren rund 8500 Polizisten an der landesweiten Aktion beteiligt, der bereits zahlreiche Razzien in den vergangenen Monaten vorausgingen. Seit dem Putschversuch im vergangenen Juli wurden in der Türkei zehntausende mutmaßliche Gülen-Anhänger inhaftiert oder aus dem Staatsdienst entlassen.

Die Regierung in Ankara stuft die Bewegung von Gülen, einem einstigen Weggefährten und heutigen Erzfeind Erdogans, als "terroristische Organisation" ein, die zahlreiche Institutionen infiltriert habe, um einen "Parallelstaat" aufzubauen. Die Gülen-Bewegung, die sich Hizmet (Dienst) nennt, betreibt weltweit hunderte Bildungseinrichtungen und fördert nach eigenen Angaben einen aufgeklärten und toleranten Islam.

Gülen, der im Exil in den USA lebt, bestreitet jegliche Verwicklung in den Putschversuch. Die türkische Regierung hat Washington wiederholt zur Auslieferung Gülens aufgefordert. Die Gülen-Frage dürfte eines der zentralen Themen eines USA-Besuchs Erdogans Mitte Mai stehen.

Bei einem Verfassungsreferendum vor gut einer Woche hatten die Türken mit einer knappen Mehrheit von rund 51 Prozent für die Einführung eines Präsidialsystems gestimmt. Mit der Verfassungsreform werden die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten deutlich erweitert, die Befugnisse des Parlaments geschwächt und die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt. Erdogan kündigte zudem an, ein Gesetz über die Wiedereinführung der Todesstrafe zu unterzeichnen, falls das Parlament dies verabschiede. (AFP)

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