Europa stößt an Grenzen: Libyen-Aktionismus ohne klare Grundlage

Tausende Flüchtlinge sterben jedes Jahr im Mittelmeer auf dem Weg nach Europa. Die EU will die Route von Libyen auf den Kontinent schließen. Der Plan hat einen Haken, den die Staatschefs aber nur andeuten. Von Benno Schwinghammer

Er hört sich vielversprechend an, der Zehn-Punkte-Plan. Die EU-Regierungschefs haben ihn vor wenigen Tagen auf Malta beschlossen, um die illegale Migration von Libyen über das Mittelmeer nach Europa einzudämmen: Die libysche Küstenwache soll umfangreicher unterstützt werden, Schleuserbanden zerstört und sichere Aufnahmeeinrichtungen aufgebaut werden. Europa handelt, das ist das Zeichen. Doch was sie macht, ist vor allem der zweite Schritt vor dem Ersten.

Denn der erste Schritt müsste in der Überwindung der Spaltung Libyens liegen. Daran beißen sich die Vereinten Nationen seit dem Sturz und Tod des Langzeitmachthabers Muammar al-Gaddafi 2011 die Zähne aus. Europäische Diplomaten müssen unter vorgehaltener Hand zugeben, dass sie gerade kein Rezept für eine Einigung haben.  

Mehr als 180.000 Menschen, meist Afrikaner aus Ländern südlich der Sahara, nahmen die lebensgefährliche Reise in teils schrottreifen Booten 2016 auf sich. Tausende starben bei dem Versuch, Europa zu erreichen. Doch die meisten Boote legten dort ab, wo die international anerkannte Regierung des Landes wenig bis keinen Einfluss hat.

Wenn Bundeskanzlerin Merkel also sagt: «Wir brauchen eine politische Lösung für ein stabiles Libyen. Daran ist noch viel zu arbeiten», deutet sie das eigentliche Problem an, das die EU auch nicht mit Aktionismus überdecken kann. Im zerrütteten Libyen gibt es keinen Partner, mit dem sich der europäische Plan nachhaltig umsetzen ließe.

Die EU baut auf Fajis al-Sarradsch, den Ministerpräsidenten Libyens und Chef der von den UN unterstützten Einheitsregierung. Diese hatte vor knapp einem Jahr in Tripolis ihre Arbeit aufgenommen, konnte ihre Macht aber kaum über die Grenzen der Hauptstadt ausweiten. Selbst in Tripolis macht Al-Sarradsch eine Gegenregierung zu schaffen. Und eine weitere konkurrierende Führung im Osten des Landes denkt gar nicht daran, Sarradsch das Feld zu überlassen.

Der EU-Partner kontrolliert nur einen Bruchteil der mehr als 1.600 Kilometer langen Küste Libyens. Die Internationale Organisation für Migration schätzt die Zahl der Migranten in Libyen auf 700.000 bis eine Million. Die meisten von ihnen kommen allerdings in das ölreiche Land, um zu arbeiten - Libyen hat traditionell viele Gastarbeiter. Darüber, wie viele tatsächlich eine der meist mehrere Tausende Euro teuren Bootsreisen mit den Schleppern in Betracht ziehen, gehen die Schätzungen auseinander.

Die meisten Migranten leben im Westen des Landes nahe der Hauptstadt Tripolis und weiter westlich von ihr. Dort befindet auch das Drehkreuz der Schlepper. Die Unterbringung der Flüchtlinge ist so unterschiedlich wie das Land gespalten: Da in weiten Teilen Libyens Anarchie herrscht und einzelne Milizen das Sagen haben, gibt es auch keinen einheitlichen Standard. Nur ein Bruchteil der Migranten lebt der IOM zufolge dabei in Auffanglagern. Mehr als neun von zehn seien privat untergebracht.

Mit der Einheitsregierung wird Europa Beobachtern zufolge nur in der Hauptstadt und einigen wenigen Landstrichen zusammenarbeiten können. Für einen umfangreicheren Ansatz müsste die Union mit Kräften kooperieren, deren Einfluss sie eigentlich zurückdrängen will.

Ein Dilemma, sofern die Länder nicht das grundlegende Problem der Einigung Libyens angehen. Auch der italienische Regierungschef Paolo Gentiloni weiß das, als er auf dem Gipfel sagte: «Natürlich hoffen wir, dass es Ergebnisse geben wird, aber Wunder kann man nicht vollbringen.»

Großbritanniens Außenminister Boris Johnson erklärte dazu, es gehe darum, «kreativer zu sein und dabei natürlich gleichzeitig die Flüchtlingskrise anzugehen». Woran Johnson dabei denkt, verriet er nicht. Doch die Kreativität dürfte an die gleichen Grenzen stoßen, die die EU gerade zu sichern versucht. (dpa)