Erdrutschsieg von Kaïs Saïed bei Präsidentschaftswahl in Tunesien erwartet

Bei der Präsidentschaftswahl in Tunesien hat der konservative Juraprofessor Kaïs Saïed einen Erdrutschsieg erzielt. In der Stichwahl vom Sonntag gewann der unabhängige Kandidat laut Umfragen mehr als 70 Prozent: Das Meinungsforschungsinstitut Emrhod sah den 61-Jährigen bei 72,5 Prozent, das Institut Sigma sogar bei 76,9 Prozent. Saïed deklassierte damit seinen Konkurrenten, den umstrittenen Medienunternehmer Nabil Karoui.

Tausende Tunesier gingen am Abend auf die Straßen, um Saïeds Wahlsieg zu feiern. In der Hauptstadt Tunis wurden Feuerwerkskörper gezündet und es gab Hupkonzerte.

Saïed dankte in einer kurzen Ansprache der Jugend, die "ein neues Kapitel der Geschichte" aufgeschlagen habe - laut Umfragen stimmten rund 90 Prozent der 18- bis 25-Jährigen für den Juraprofessor. Er werde den Geist des Arabischen Frühlings von 2011 fortführen, versprach Saïed. "Unser Projekt gründet auf der Freiheit. Die Zeit der Unterwerfung ist vorbei."

Sein Rivale Karoui beklagte, dass er durch seine wochenlange Inhaftierung wegen des Vorwurfs der Geldwäsche und Steuerhinterziehung benachteiligt worden sei. "Es ist wie bei den Olympischen Spielen und man bricht vor dem 100-Meter-Lauf ein Knie", sagte der 56-Jährige. Karoui war im August in Untersuchungshaft genommen worden und erst vor wenigen Tagen wieder freigekommen. Er sieht die Ermittlungen gegen sich als politisch motiviert an.

Wahlsieger Saïed hat keinerlei Regierungserfahrung. Den Tunesiern verspricht er neben der Bekämpfung der Korruption eine rigorose Überarbeitung der Verfassung und des Wahlsystems sowie mehr Demokratie auf lokaler Ebene. Saïed ist zudem für seine erzkonservativen Ansichten in gesellschaftlichen Fragen bekannt.

Unterstützung erhielt er zuletzt von der gemäßigt islamistischen Ennahdha-Partei. Diese hatte vor einer Woche die tunesische Parlamentswahl gewonnen und sich 52 der 217 Sitze im Parlament gesichert. Am Sonntagabend rief sie ihre Anhänger auf, Saïeds Wahlsieg zu feiern.

Mit Saïed und Karoui waren gleich zwei politische Außenseiter in die Stichwahl um das Präsidentenamt eingezogen. Der erste Wahlgang wurde deswegen als herbe Schlappe für die herrschende politische Klasse Tunesiens gewertet.

Es war die zweite Präsidentschaftswahl in dem nordafrikanischen Land seit dem Arabischen Frühling im Jahr 2011. Die ursprünglich für den November geplante Wahl wurde nach dem Tod von Präsident Béji Caïd Essebsi am 25. Juli im Alter von 92 Jahren vorgezogen.

Tunesien ist das Ursprungsland des Arabischen Frühlings. Es hat als einziges Land an dem Demokratisierungsprozess festgehalten, leidet allerdings unter anderem unter großen wirtschaftlichen Problemen. (AFP)