Erdogan und die Frauen

Ankara. Seit der Regierungsübernahme von Recep Tayyip Erdogan vor 20 Jahren haben türkische Frauen für die Wahrung ihrer Rechte unter einer islamisch-konservativen Führung kämpfen müssen. Vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am kommenden Sonntag erinnern sich viele an die Auseinandersetzungen um die Rechte von Frauen in der offiziell säkularen Türkei:



Gewalt gegen Frauen

2021 beschließt Erdogan, die Türkei aus der Istanbul-Konvention des Europarats zurückzuziehen, die den Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt zum Ziel hat. Die Entscheidung löst angesichts der steigenden Zahl von Morden an Frauen in der Türkei Besorgnis aus. Im vergangenen Jahr wurden in der Türkei fast 400 Frauen ermordet, heißt es bei der Frauenrechtsgruppe "We will stop Femicide Platform". In diesem Jahr seien es bereits 90. Die Staatsanwaltschaft will die Plattform wegen Verstößen gegen "Gesetz und Moral" verbieten.



"Unter (Erdogans) Regierung ist die Zahl der Morde an Frauen jedes Jahr gestiegen", sagt Gruppenmitglied Fidan Ataselim. Die Ultra-Konservativen in Erdogans Koalition argumentieren, dass die Istanbul-Konvention die Einheit der Familie beschädigt und die Rechte Homosexueller und anderer Gruppen (LGBTQ) fördert. Erdogan hat die Opposition im Wahlkampf mehrfach angegriffen, weil sie sich für die LGBTQ-Bewegung einsetzt. "Wir sind gegen LGBT", sagt er.



Der Rückzug aus der Konvention bedeutete einen Kurswechsel für Erdogan. Das Abkommen war 2011 in Istanbul ausgehandelt und unterzeichnet worden. Die Türkei hatte es als erstes Land im folgenden Jahr ratifiziert. "Das waren die frühen Jahre (der Regierungspartei), als sie sich als gemäßigt konservativ positionierte", sagt Gökçe Gökçen, der stellvertretende Chef der größten linksgerichteten Oppositionspartei CHP.



Gesundheit und sexuelle Selbstbestimmung

Als Erdogan 2012 Abtreibung mit Mord gleichsetzt, löst er damit Proteste aus, die seine Regierung zwingen, ein geplantes Verbot von Abtreibung zurückzunehmen. "Sie mussten nach den wütenden Protesten einen Schritt zurückgehen", sagt Ataselim. Aber jetzt sei das Problem, dass wenige Ärzte sich trauten, eine Abtreibung vorzunehmen, betont Gökçen. Dies gilt insbesondere für öffentliche Krankenhäuser, die schärferen Kontrollen der Regierung unterliegen. Außerdem sei es angesichts der seit 2021 herrschenden Wirtschaftskrise für Frauen aus niedrigeren Einkommensschichten schwieriger, an Verhütungsmittel und Hygieneprodukte heranzukommen, sagt Beril Hepgoncali von der Frauenrechtsgruppe Mor Dayanisma (Lila Solidarität).



Frauenfeindliche Parolen

Erdogan und hochrangige Vertreter seiner regierenden AKP äußern sich häufig offen sexistisch. 2014 sagte der Präsident, Gleichheit zwischen Männern und Frauen sei "gegen die Natur". Im selben Jahr sagte der stellvertretende Ministerpräsident, Frauen sollten in der Öffentlichkeit nicht laut lachen. "Die Regierung versucht zunehmend in alle Bereiche des Lebens von Frauen einzugreifen von der Kleidung, über den Lebensstil bis hin zum Lachen", kritisiert Hepgoncali. "Unser Recht als gleichberechtigte Bürgerinnen und freie Individuen zu existieren, wird dauernd bedroht", sagt auch Berrin Sönmez von der feministischen Plattform Esik. Und Ataselim fügt hinzu: "Sie vertreten eine Politik, die die Familie in den Vordergrund stellt und nicht die Frauen."



Kopftuch

Für konservative Frauen hat sich dagegen die Situation verbessert. Erdogans Regierung hat 2013 das Verbot aufgehoben, in staatlichen Einrichtungen ein Kopftuch zu tragen. Damit ermöglichte er Millionen religiöser Frauen zu studieren und einen Beruf zu ergreifen. Erdogan präsentiert sich als Beschützer der Muslime gegen die weltlichen Eliten, die im 20. Jahrhundert weitgehend die türkische Politik bestimmt hatten.



Heute will keine der großen Parteien das Verbot des Kopftuchs wieder einführen. Der Chef der sozialdemokratischen CHP, Kemal Kilicdaroglu, der als Präsidentschaftskandidat gute Chancen auf den Sieg hat, hat sogar vorgeschlagen, das Recht Kopftuch zu tragen, im Gesetz zu verankern. "Es hat bedeutende Fortschritte in diesem Bereich gegeben. Heute arbeiten fromme und weltliche Frauen zusammen in feministischen Organisationen", sagt Sönmez. (AFP)