Ende der Krise oder Krise ohne Ende: Europa und die Migration

Schiffe werden blockiert. Migranten in Bürgerkriegsländern festgehalten. Menschen suchen sich andere Schlupflöcher, andere Routen. Auch wenn weniger Migranten in Europa ankommen - das Problem ist nicht gelöst. Das Sterben geht im Verborgenen weiter.

Der Wind in Europa hat sich gedreht. In der Migrationsfrage geben die Sicherheitspolitiker den Ton an. Mauern werden hochgezogen, Fluchtrouten verlagern sich. Und denen, die helfen wollen, kommt Schweigen oder Hass entgegen.

Die Ausgangslage

Die stärkere Zusammenarbeit insbesondere zwischen Italien und dem Bürgerkriegsland Libyen hatte schon in der zweiten Jahreshälfte 2017 zu einem starken Rückgang der Ankünfte in Europa geführt. Der Trend sollte sich 2018 noch verstärken: Kamen 2017 mehr als 186.700 Migranten in Europa an, waren es bis Ende November 2018 etwas mehr als 131.000.

Die Wende im Mittelmeer

Minus 80 Prozent: So viel weniger Migranten kamen in diesem Jahr über die zentrale Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien nach Europa. Seit in Italien eine neue Regierung und mit ihr der rechte Innenminister Matteo Salvini an der Macht ist, fährt Rom eine rigorose Antiflüchtlingspolitik. Das zeigt Wirkung - es haben sich aber auch zusätzliche Migrationsrouten etabliert. Spanien hat Italien in Europa als Hauptziel von Migranten abgelöst, gefolgt von Griechenland. Spanien erreichen die Menschen von Marokko oder Algerien aus. Die Straße von Gibraltar zwischen Marokko und Spanien ist an ihrer engsten Stelle nur 14 Kilometer breit.

Auch wenn die Zahl der Ankünfte mit rund 50.000 aufs Jahr gerechnet immer noch überschaubar ist, räumt auch die sozialistische Regierung in Madrid inzwischen Ratlosigkeit ein. «Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, dass wir nicht abschätzen können, wie weit der Flüchtlingsstrom bei uns noch wachsen wird», sagte dieser Tage Innenminister Fernando Grande-Marlaska. Das könnte Folgen für ganz Europa haben: Viele der in Spanien ankommenden Afrikaner ziehen weiter Richtung Norden, nach Frankreich, Schweden, Deutschland.

Die Krise

Die Zeiten der Krise sind vorbei. Das betont EU-Ratschef Donald Tusk bei jeder Gelegenheit - auch um den ohnehin erstarkten Populisten das Feld nicht zu überlassen. Die Zahlen geben ihm Recht, dürften sie 2018 voraussichtlich so niedrige Werte erreichen wie seit 2013 nicht. «Die Situation zu managen ist also eine Frage des politischen Willens», sagt Charlie Yaxley, Sprecher für Mittelmeerangelegenheiten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Doch daran hapert es. Trotz der rückläufigen Zahlen befand sich die EU in Sachen Migration dieses Jahr fast dauerhaft im Krisenmodus und kam auch bei der Reform der Dublin-Verordnung kein Stück voran. Die deutsche Regierungskrise um Zurückweisungen an der Grenze machte der Gemeinschaft zu schaffen. Es waren aber vor allem die Alleingänge Italiens, die die EU vor vollendete Tatsachen stellte.

Die geschlossenen Häfen

Schlagzeilen machten nach dem Amtsantritt der populistischen Regierung in Italien im Juni nicht verzweifelte Menschen auf überfüllten Schlauchboote, sondern Hunderte festsitzende Migranten - auf Rettungsschiffen auf dem offenen Meer oder im Hafen. Innenminister Salvini zeigte keinen Pardon und sandte klare Signale: An die Partner der «unfähigen und schädlichen» EU, von denen Rom Solidarität fordert. Oder an die von ihm oft als Schlepper-Helfer bezeichneten Hilfsorganisationen, für deren Schiffe er die Häfen des Landes schloss. Das Schweigen der anderen Staaten zeigt, wie sehr sich die Stimmung gegen die zivilen Retter gedreht hat. Ja zur Rettung hört man zwar nach wie vor - allerdings auch keinen Einspruch dagegen, dass sich Italien weitgehend aus der Koordinierung der Seenotrettung zurückgezogen und an die Libyer übergeben hat. Und das, obwohl die Lage in dem Bürgerkriegsland weiterhin unübersichtlich ist - und die Situation in den Migrantenlagern desaströs.

Die Gefühlslage

Ein Blick ins spanische Andalusien: Eine Frage bringt José schnell in Rage. «Ob ich den wachsenden Flüchtlingsstrom für ein großes Problem halte? Natürlich, was denken Sie? Hier sind alle in großer Sorge.» Der etwa 50-jährige Spanier unterbricht seinen Sonntagsspaziergang am Strand von Sanlúcar de Barrameda im Süden des Landes, sein Redeschwall ist aber nicht zu bremsen: «Die Flüchtlinge sind bei uns inzwischen Gesprächsthema Nummer eins in den Familien, in den Kneipen, am Arbeitsplatz.» Wie José denken und fühlen viele Menschen in der Region in Südspanien, wo 2016 «nur» gut 8.000 Bootsmigranten ankamen.

Dass das Phänomen allerdings EU-weit überschätzt wird, hat eine Studie des italienischen Forschungsinstituts Carlo Cattaneo gezeigt. Gefragt nach dem Anteil, den Migranten aus Ländern außerhalb der EU in den jeweiligen Ländern ausmachen, verschätzten sich Befragte in allen EU-Ländern. In Italien weicht die Wahrnehmung demzufolge aber besonders stark von der Wirklichkeit ab.

Die Toten

Auch wenn auf der tödlichsten Route im Mittelmeer weniger Menschen unterwegs waren, ist die Überfahrt deutlich gefährlicher geworden. Zwischen Januar und Juli 2018 kam nach UN-Angaben jeder 18. Flüchtling ums Leben, im September war es bereits jeder achte. Das UNHCR erklärt die hohe Todesrate mit der geringen Präsenz von zivilen Rettungsschiffen vor der libyschen Küste. Angesichts der Unsicherheit, wohin die geretteten Menschen gebracht werden können, sieht UNHCR «das reale Risiko, dass Kapitäne zögern, auf Hilferufe zu antworten, was wertvolle Sekunden kosten kann, die zwischen Leben und Tod entscheiden». 2018 starben mehr als 2.000 Menschen im Mittelmeer, rund 1280 davon auf der zentralen Route zwischen Libyen und Italien.

Die «Lösungen»

Gegen die wohl konkreteste Vorstellung der EU, wie Migration von Afrika aus eingedämmt werden kann, haben sich Tunesien, Marokko und Algerien erfolgreich zur Wehr gesetzt. Nun will Brüssel mit Ägypten einen Dialog über sogenannte Anlandezentren nach internationalem Standard, in die im Mittelmeer Gerettete Migranten gebracht werden sollen, anstoßen. Was optimistische Aussagen wie von Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz dabei vergessen machen sollen: Ägypten lehnt die Zentren ebenso ab wie die Länder im Maghreb.

Der Präsident des autoritären Staats, Abdel Fattah al-Sisi, könnte seinen Landsleuten nur schwer vermitteln, warum Gerettete in ihrer Heimat besser leben sollen als Teile der Bevölkerung. Die Annahme, dass es in Kairo Verhandlungsbereitschaft gebe, sei schlicht «falsch», sagte Laurent De Boeck, Landesdirektor der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Kairo.

Deutschlands Rolle

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte im Spätsommer mit dem Satz für Aufregung gesorgt, die Migrationsfrage sei «die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land». Inzwischen klingt der «Vater der Obergrenze» aber recht zufrieden. Das liegt vor allem daran, dass die Zahl der in diesem Jahr gestellten Asylanträge zum Jahresende wohl deutlich unterhalb des «Korridors» von jährlich maximal 180.000

bis 220.000 Menschen liegen wird, den Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hatten. Von Januar bis Ende Oktober 2018 haben 158.512 Menschen in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Das sind 15,3 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum.

In Berlin wird meist ausgeblendet, dass es immer noch Menschen gibt, die seit Jahren unter prekären Bedingungen in völlig überfüllten griechischen Flüchtlingslagern leben. Besonders dramatisch ist die Lage im Hotspot von Moria auf Lesbos und auf der Insel Samos bei Vathy. Sollte der Staat die überfüllten Lager nicht entlasten, drohe eine soziale Explosion, warnte der Bürgermeister von Lesbos, Spyros Galinos. Die von der EU mit der Türkei vereinbarte Rückführung von Migranten von den Inseln der Ostägäis geht nur schleppend voran.

Abgeordnete der Grünen und der Linkspartei sprechen diese Dramen zwar regelmäßig im Bundestag an. Doch dafür nachhaltige Lösungen zu finden, ist angesichts der tiefen Spaltung der Europäer in der Migrationspolitik wohl tatsächlich schwer.

Die Rückkehr der Retter

Die zivilen Seenotretter sind vor allem durch die Abschottungspolitik der italienischen Regierung stark unter Druck geraten, ihre Missionen weitgehend zum Erliegen gekommen. Schiffe wie die «Sea-Watch 3» oder «Lifeline» wurden im Laufe des Jahres von den Behörden etwa auf Malta festgesetzt, andere wie die «Aquarius» von Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée verloren ihre Flagge. Doch nun wollen die Hilfsorganisationen Sea Watch aus Deutschland und Proactiva Open Arms mit dem italienischen Projekt Mediterranea wieder dauerhaft vor der libyschen Küste präsent sein. Dass wieder Menschen zu Tausenden gerettet werden, daran glaubt in Europa so gut wie niemand. Die Krise besteht weiter - nun eben an den Grenzen Europas. (dpa)