Das Wort und der Krieg

Kaum etwas ist so vergleichbar in der arabischen Welt wie Folter, Gefängniserfahrungen und immer wieder aufflammender Bürgerkrieg. Elias Khoury hat darüber einen großartigen Roman geschrieben, den Sonja Hegasy gelesen hat.

Von Sonja Hegasy

Der moderne libanesische Roman wird immer wieder als Produkt des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 bezeichnet. Bis heute verweigert der libanesische Staat jede Form der Historisierung des Kriegs oder der offiziellen Erinnerung. Dies mag ein Grund sein für die anhaltende Auseinandersetzung von Künstlern, Schriftstellern und Regisseuren mit dem Thema.

Schätzungen über die Todesopfer reichen von 150.000 bis 230.000, weitere rund 115.000 Menschen wurden verletzt und verkrüppelt. Ein Fünftel der Bevölkerung wurde aus ihren Häusern vertrieben, Beirut zu großen Teilen zerstört.

Offiziell wurde der Krieg mit dem Abkommen für nationale Versöhnung in Ta'if beendet. Anschließend wurde eine Amnestie für alle politischen Verbrechen vor 1991 erlassen, um mit dem "Bürgerkriegskapitel" abzuschließen. Ausgenommen wurden Straftaten gegen ausländische Diplomaten sowie wenige ausgewählte Fälle. Nur ein Milizführer, Samir Geagea, wurde für Verbrechen während des Bürgerkriegs vor Gericht gebracht und verurteilt. Erst 2005 kam Geagea wieder frei.

Zerstörte Innenstadt von Beirut 1978; Foto: wikipedia.org
"Beirut - die Hauptstadt der Amnesie", wie Khoury schreibt: Bis heute setzt sich der Zedernstaat nur sehr zaghaft mit dem Bürgerkrieg und seiner blutigen Vergangenheit auseinander.

​​Elias Khourys Geschichte spielt 1993. Sie zeigt, wie der Krieg alle gesellschaftlichen Normen verrückt hat. So versteht Yalo, der syro-aramäische Held in dem gleichnamigen Roman nicht, dass er für ein paar Vergewaltigungen und etwas Diebstahl bestraft werden soll, während um ihn herum Tausende Männer und Frauen vergewaltigt und abgeschlachtet wurden.

Unzucht in Autos

Viel wichtiger als die Zahl der von ihm vergewaltigten Frauen, scheint Yalo die Zahl derjenigen, die er hat laufen lassen. Yalo hat das Zittern der Frauen vor ihm nur missverstanden. Und überhaupt der Diebstahl: Yalo hat nur das genommen, was ihm bei seinen nächtlichen Touren angeboten wurde, als er Liebespaare in ihren Autos am Waldrand erschreckte. "Wieso stellten sie nicht das ganze libanesische Volk vor Gericht? Yalo war sich sicher, dass das gesamte libanesische Volk Unzucht in Autos trieb."

Wie konnte es sein, dass er in den Kellern einer Polizeistation verschwindet und gefoltert wird, während seine marodierenden Milizionärskumpel straffrei ausgehen? Wie konnte der Handel mit Waffen strafbar sein? Diese Logik will Yalo nicht in den Kopf. Es braucht seine Zeit, bis Yalo seine Taten wieder in das Gefüge sozialen Verhaltens einordnen kann, bis er sich überhaupt an die Vergewaltigungen erinnert und sich eingesteht, dass Gewalt eine Rolle gespielt haben könnte. Dazu zwingt ihn das Schreiben.

Khoury erzählt aus Yalos Perspektive eine vollkommen überzeugende Geschichte über dessen Kindheit, die Schulzeit, die Aufnahme bei den Freischärlern, seine Flucht nach Frankreich und die Rückkehr in den Libanon. Gleichzeitig scheint immer wieder durch, dass seine Umwelt "die Ereignisse" anders erlebt hat. Häufig lebt Yalo in vollkommener Verkennung der Realitäten. Und das, was er verheimlichen will, bahnt sich immer einen Weg aus ihm heraus.

Wer ist Yalo?

Ist Yalo der schüchterne Lulatsch, der in Friedenszeiten bildschöne Intarsien hergestellt hätte? Oder ist er das Kind einer verbotenen Beziehung, dem seine eigene Vergangenheit vorenthalten wird und den nun der Krieg anlernt? Niemand kann sich in diesem Roman sicher wähnen, und die mögliche Wahrheit wird nicht nur einmal in ihr Gegenteil verkehrt. Immer wenn der Leser glaubt, Gewissheit über eine Geschichte erlangt zu haben, erlischt der Fixpunkt.

Buchcover Yalo von Elias Khoury im Suhrkamp Verlag
"Die Kunst, mit der Khoury Yalos Geschichte erzählt, ist großartig. Das Wort und der Krieg – das sind die zwei zentralen Bezugspunkte, die der Autor in immer neuen Schleifen behandelt", schreibt Hegasy.

​​Denn Yalos Erinnerungen sagen ihm immer wieder etwas anderes als seine Umwelt: Während sich seine Schulkameraden an den Missbrauch durch den Rektor erinnern, verteidigt Yalo ihn, obwohl gerade er der besondere Liebling des Schulleiters war. "Die Sache ging seiner Ansicht nach nie über unschuldige Berührungen hinaus." Erst langsam kriecht die Erinnerung in Yalo hoch. Im Gefängnis wird er gezwungen, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben.

Mit jedem Mal nimmt seine Niederschrift eine überraschende Wendung. Mal treibt ihn das Schreiben in den Tod, mal ist er zufrieden mit seinen neuen Erkenntnissen: "Ich versichere Ihnen, verehrter Herr, dass ich ein anderer Mensch geworden bin. Ich kenne meine Geschichte. Denn ich habe sie eigenhändig niedergeschrieben. Ich bin auch gerne bereit, sie erneut zu schreiben, wenn Sie das wünschen."

Yalo glaubt, dass sein Bericht an den "verehrten Herrn Polizeioberen" ihm den Weg in die Freiheit ermöglichen wird. Straffreiheit für die Annahme der Schuld – es ist seine eigene Wahrheitskommission, die er da im Keller zwischen Blut und Kot abhält.

Die Kunst, mit der Khoury Yalos Geschichte erzählt, ist großartig. Das Wort und der Krieg – das sind die zwei zentralen Bezugspunkte, die der Autor in immer neuen Schleifen behandelt. Der Leser muss lernen, dass das, was sicher scheint, im weiteren Verlauf als Fiktion, Tagtraum, Wunschdenken oder Lüge ins Wanken gerät.

Erinnerung entsteht nur in der sozialen Interaktion. Was wie erinnert wird, ist abhängig vom Gegenüber und von der gegenwärtigen Situation und damit veränderlich – auch das lernen wir durch Yalo.

Kollektive Erinnerung, selektive Wahrnehmung

Zwar gibt es keine kollektive Erinnerung im Sinne der Erinnerung von Gruppen, aber Geschichtsschreibung muss öffentlich verhandelbar sein, um eine – auch wandelbare – gesellschaftliche Sinnbildung anzustoßen. Libanons Zeitgeschichte ist noch immer nicht Teil des nationalen Lehrplans, obwohl das Abkommen von Ta'if dies explizit vorsieht.

Elias Khoury; Foto: Heike Steinweg
Gegen Amnestie und Amnesie anschreiben: Der 1948 in Beirut geborene libanesische Schriftsteller Elias Khoury zählt zu den bedeutendsten Intellektuellen der arabischen Welt.

​​Drei Jahre arbeiteten Historiker an einer verbindlichen Fassung für alle Schulen. Das Buch wurde gedruckt – und nie verteilt. Zwanzig Jahre später bestimmen die Schulen noch immer selbst, welche Geschichtsbücher sie nutzen. Im März 2012, ist diese Diskussion wieder aufgeflammt.

Aber die Bürgerkriegsparteien können sich noch immer nicht auf ein Narrativ einigen. Selbst die Jüngeren, die am Ende des Kriegs noch Kinder waren, beharren auf den sektiererischen Erzählungen.

Sami Gemayel, Jahrgang 1980 und Enkel des Gründer der christlichen Phalangisten, fordert zu "pädagogischem Ungehorsam" auf, sollte das Erziehungsministerium jetzt ein verbindliches Geschichtswerk durchsetzen wollen. So werden es wohl weiterhin die Kulturschaffenden wie Elias Khoury sein, die gegen Amnestie und Amnesie anschreiben.

Sonja Hegasy

© Qantara.de 2012

Elias Khoury: "Yalo", Suhrkamp Verlag, Aus dem Arabischen von Leila Chammaa, 378 Seiten, ISBN: 978-3-518-42224-3

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de