Im zweiten Jahr des Aufstands

Das Wort vom Frühling trügt: Die arabische Welt steht erst am Beginn ihres Wandels. Denn die Umbrüche haben bislang noch nichts zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse beigetragen, unter denen vor allem die jüngere Generation leidet. Von Volker Perthes

Von Volker Perthes

In dem Jahr seit dem Sturz von Tunesiens Diktator Ben Ali und Ägyptens Staatschef Mubarak ist klar geworden, dass die Rückkehr der Politik in die arabischen Staaten ein komplexer, oft blutiger und vor allem langwieriger Prozess ist, der gerade erst begonnen hat.

Viele haben vom "arabischen Frühling" geredet. Aber der Begriff ist saisonal; er weckt Ungeduld und fördert Enttäuschung. Die Erfahrung aus anderen Umbruchregionen, in denen autoritäre Systeme pluralen oder demokratischen weichen mussten, legt nahe, dass die arabische Welt sich noch in den ersten fünf Minuten ihrer gegenwärtigen historischen Stunde befindet. Vier Faktoren, die den weiteren Verlauf der Ereignisse bestimmen dürften, verdienen besondere Aufmerksamkeit, gerade auch aus Europa.

Aufstand der jüngeren Generation

Demonstranten am Tahrir-Platz in Kairo; Foto: AP
Die enttäuschte Generation: "Die Aufstände in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Staaten wurden vor allem von den 20- bis 35-Jährigen getragen. Diese Alterskohorte ist besser ausgebildet als die Generation vor ihr, aber sie hat weniger Chancen als die Älteren", schreibt Perthes.

​​Das sind erstens die sozio-demographischen Entwicklungen. Die Aufstände in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Staaten wurden vor allem von den 20- bis 35-Jährigen getragen. Diese Alterskohorte ist besser ausgebildet als die Generation vor ihr, aber sie hat weniger Chancen als die Älteren und die Jüngeren.

Die politischen Umbrüche in Tunesien, Ägypten und Libyen haben noch gar nichts zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse beigetragen, unter denen gerade diese Generation gelitten hat. Und die "2011er", der revolutionäre Teil dieser Generation, gehört auch nicht unbedingt zu den Gewinnern der Wahlen, die seither stattgefunden haben.

Wir sollten deshalb nicht allzu erstaunt sein, wenn diese Generation auch die Übergangsregierungen und neue gewählte Autoritäten immer wieder herausfordert. Die Hauptaufgabe Europas dürfte darin liegen, den Transformationsstaaten dabei zu helfen, dieser Generation echte Chancen auf Beschäftigung und Teilhabe zu ermöglichen.

Nicht übersehen werden sollte auch, dass die sozio-demographischen Entwicklungen in verschiedenen Staaten der Region zwar ähnlich, aber nicht gleichzeitig verlaufen. So wächst eine den tunesischen, ägyptischen oder syrischen "2011ern" vergleichbare Generation in Saudi-Arabien gerade erst heran; sie wird ihre volle Stärke erst in einigen Jahren erreicht haben.

Das Militär als Faktor der nationalen Einheit

Dann das Militär: In Tunesien und Ägypten hat das Militär eine positive Rolle gespielt, indem es die Revolten gegen die autoritären Herrscher zugelassen hat. In Syrien und im Jemen wird der Verlauf der Umbrüche wesentlich vom Verhalten großer Teile des Militärs abhängen. In der arabischen Welt genießt das Militär oft mehr Vertrauen als die Regierung, es stellt oft sogar einen Faktor der nationalen Einheit dar. Es ist aber kein neutraler und schon gar kein demokratischer Akteur. Es hat, wie sich gerade in Ägypten zeigt, eigene Interessen.

Einheiten der ägyptischen Armee in Kairo; Foto: dapd
"Das Militär kann Chaos und Bürgerkrieg verhindern und den Übergang in eine neue politische Ordnung absichern. Es ist aber auf eine Rolle in einer Demokratie nicht vorbereitet."

​​Die militärischen Führer verstehen nichts von modernem Regieren oder von den Anforderungen einer globalisierten Ökonomie. Das Militär kann Chaos und Bürgerkrieg verhindern und den Übergang in eine neue politische Ordnung absichern. Es ist aber auf eine Rolle in einer Demokratie nicht vorbereitet.

EU und Nato sollten die arabischen Militärs deshalb weder hofieren noch ignorieren, sondern sie gezielt engagieren. Dabei kommt vor allem zentral- und osteuropäischen Staaten, die mittlerweile der Nato beigetreten sind, eine wichtige Rolle zu, können sie doch ihre eigenen Erfahrungen mit der Reform von Streitkräften nach einem Systemwechsel einbringen. Der Einfluss externer Akteure sollte allerdings nicht überschätzt werden.

Pluralistischer politischer Islam

Drittens der politische Islam: Es ist wahrscheinlich, dass zukünftig auch weitere Länder der arabischen Welt gleichzeitig demokratischer und konservativer werden.

Die Wahlen in Ägypten, Tunesien und Marokko haben gezeigt, dass islamistische Parteien unterschiedlicher Ausprägung eine breite Basis haben – und einen Imagevorteil in Sachen Moral. Mit einer Öffnung der politischen Systeme erweitert sich auch das Spektrum politisch-islamischer Gruppen. Anstatt durch politische Repression zusammengeschweißt zu werden, wird der politische Islam selbst pluralistisch.

Das wirft vor allem die Frage auf, wie die Muslimbruderschaft in Ägypten oder andere Vertreter des politisch-islamischen Mainstreams sich angesichts einer vom saudisch-wahhabitischen Islam inspirierten salafitischen Konkurrenz weiterentwickeln werden.

Werden sie konservativer auftreten, um die Salafiten wiederzugewinnen, dabei aber in der politischen Mitte verlieren? Oder werden sie sich um pragmatische Antworten auf die sozialen und wirtschaftlichen Probleme bemühen, um sich, ähnlich der türkischen AKP, als religiös-konservative Volkspartei zu etablieren? Europa kann Letzteres am ehesten unterstützen, indem es neuen, aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierungen in Nordafrika und im Nahen Osten ungeachtet ihrer politischen Färbung offene, partnerschaftliche Unterstützung anbietet.

Regionale Dynamiken

Treffen der Arabischen Liga im November 2011 in Kairo; Foto: dapd
Bis vor kurzem noch als "Club der Autokraten" verhöhnt, hat sich die Arabische Liga inzwischen zu einem einflussreichen, politisch aktiven Gremium entwickelt.

​​Schließlich die regionale Geopolitik: Die Umbrüche und anhaltenden Revolten haben sich auf die regionalen Dynamiken ausgewirkt. So spielen Ägypten, die Türkei und das kleine, aber ressourcenreiche Qatar heute eine sehr viel aktivere regionale Rolle als vordem.

Die Arabische Liga, die lange als ein Club von Autokraten fungierte, ist zu einer Regionalorganisation geworden, deren Verantwortung nicht an den Grenzen der Mitgliedsstaaten endet. Natürlich sind die Maßnahmen der Liga gegen das syrische Regime auch von geopolitischen Motiven getragen.

Vor allem Israel tut sich mit den Veränderungen in seiner Umgebung schwer. Das Land befürchtet – nicht zu Unrecht –, dass demokratische Wahlen in den Nachbarländern anti-israelische Gruppen an die Macht bringen könnten. Statt sich aber durch eine aktive Friedenspolitik gegenüber den Palästinensern auch um das Vertrauen der anderen arabischen Gesellschaften zu bemühen, treibt die gegenwärtige israelische Regierung das Land zunehmend in die Isolation.

Nicht nur deshalb sind neue regionale Krisen geradezu programmiert. Da die USA zumindest für dieses Wahlkampf-Jahr in der Nahost-Politik abgedankt haben, werden die Erwartungen an Europa steigen.

Gefordert sind Krisenmanagement im israelisch-palästinensischen Konflikt, weitere Anstrengungen um eine diplomatische Lösung im Atomkonflikt mit Iran, aber auch Bemühungen darum, in Syrien die Bedingungen für einen friedlichen Wandel zu fördern und ein weiteres Abgleiten in den Bürgerkrieg zu verhindern.

Volker Perthes

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de