Ehemaliger «Cumhuriyet»-Chefredakteur Can Dündar: Türkei steuert auf «Gestapo-Regime» zu

Für den Ex-Chefredakteur der unabhängigen türkischen Tageszeitung «Cumhuriyet», Can Dündar, steuert die Türkei auf ein «Gestapo-Regime» hin. Das deutsche Volk müsse nur in seinen Geschichtsbüchern blättern, um zu verstehen, wohin sich die Türkei gerade entwickle, sagte Dündar dem «Tagesspiegel» (Montagsausgabe).

Häuser von Andersdenkenden, Intellektuellen und Politikern würden gestürmt, ohne dass das türkische Parlament eingebunden werde. «Wissenschaftler werden aus Universitäten verbannt, Künstler verhaftet. Ihnen wird immer derselbe Vorwurf gemacht, am Ende ist es nur noch eine Hexenjagd», sagte Dündar.

Dündar wurde im Mai in der Türkei wegen Spionage zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt. Im Juli floh er ins Ausland.

Der mehrfach ausgezeichnete Journalist, der am Montag von Bundespräsident Joachim Gauck empfangen werden sollte, warf der EU und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine zögerliche Haltung gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vor. Mit Blick auf die jüngsten Äußerungen von Regierungssprecher Steffen Seibert, dass die Situation in der Türkei alarmierend sei, erklärte Dündar: «Was bringt es jetzt noch von 'alarmierend' zu sprechen, wenn das Haus nur noch Asche ist? Wir haben monatelang auf diese Reaktion der Bundeskanzlerin gewartet. Ich schrieb der Bundesregierung sogar einen Brief. Das war vor einem Jahr, als ich in der Türkei inhaftiert war.»

Die regierungskritischen Medien in der Türkei hätten von Anfang an herausgestellt, dass sich Erdogan nicht um die EU schere, sagte Dündar weiter. Der türkische Präsident habe nie Mitglied dieser Gemeinschaft werden wollen. «In Europa hat sich kein Leader ernsthaft hinter die Front der demokratischen Kräfte in der Türkei gestellt, niemand hat das Vorgehen dieses unterdrückenden Regimes verurteilt», kritisierte Dündar. Damit seien gleichzeitig auch die Träume vieler Türken zunichtegemacht worden, die sich viel von den EU-Beitrittsverhandlungen erhofft hatten.

Die türkische Justiz hatte Ende vergangener Woche Haftbefehl gegen Dündars Nachfolger, «Cumhuriyet»-Chefredakteur Murat Sabuncu, und acht weitere führende Mitarbeiter erlassen. Sie wirft ihnen Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor sowie zur Bewegung des im US-Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen vor. Zudem wurden zahlreiche Politiker der prokurdischen Oppositionspartei HDP festgenommen. (epd)

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