"Dschihad 4.0": Forscher suchen nach Ursachen für Radikalisierung

Paris, Brüssel, Lahore. Warum werden aus jungen Menschen fanatische Attentäter? Nach den verheerenden Anschlägen der jüngsten Vergangenheit ist nur soviel klar: Die Debatte darüber steht erst am Anfang. Von Paula Konersmann

«Wir wissen noch viel zu wenig», konstatiert die Leiterin der Abteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Petra Bahr. Erst langsam suchten Wissenschaftler, Therapeuten, Pädagogen, Terror- und Gewaltforscher gemeinsam nach den Ursachen, die aus jungen Menschen islamistische Terroristen machen, schreibt die Theologin in der aktuellen «Zeit»-Beilage «Christ und Welt» (Donnerstag).

Einigkeit besteht in einem Punkt: Der erbarmungslose Kämpfer, der mit Kalaschnikow und Turban in einer Höhle lauert, ist ebenso ein Klischee wie der junge, perspektivlose Mann, der in Syrien ein Abenteuer sucht. «Eher sind wir diejenigen, die in der Höhe sitzen und immer hinterherlaufen», so beschrieb es die pakistanische Entwicklungsberaterin Gulmina Bilal im vergangenen Sommer beim Global Media Forum der Deutschen Welle.

Seither sind verschiedene Bücher erschienen über «Die neuen Dschihadisten» (Peter Neumann) oder «Die Dschihad-Generation» (Petra Ramsauer). Weitere sind in Planung, etwa «Wie der Dschihadismus über uns kam» des Politikwissenschaftlers Asiem El Difraoui. Er spricht von der vierten Generation von Dschihadisten, die inzwischen im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in Europa Angst und Schrecken verbreite.

Dschihadismus 4.0? Die Attentäter vom 11. September 2001 seien «noch auf einer religiösen Sinnsuche» gewesen, erläuterte El Difraoui unlängst auf sueddeutsche.de. Die Terroristen von Brüssel hätten dagegen «keine Ahnung mehr vom Islam». Ihre Anführer setzten ihnen Koran-Suren vor «wie bei einem Lego-Spiel». Am Ende bestehe das simple Bauwerk nur aus den schlimmsten, hasserfüllten Stellen.

Wer dagegen ankommen will, der braucht gleichwohl intensives theologisches Wissen, betont Thomas Mücke. Der Extremismusforscher leitet die Berliner Beratungsstelle «Kompass» und ist Geschäftsführer des «Violence Prevention Network». Die Berater müssten auch in exegetischen Debatten sattelfest sein, sagt er und nennt ein Beispiel: «Im Koran gibt es eine frühe Offenbarung, laut der nicht nur das Handeln eine Sünde ist, sondern auch das Nachdenken über bestimmte Handlungen. Diese Offenbarung wird später wieder aufgehoben.» Solch tiefgehende Fragen, über die kaum ein Normalbürger Bescheid wisse, bewegten die jungen Menschen, die ins radikale Lager abgedriftet seien.

Nach Ansicht des Kulturtheoretikers Klaus Theweleit hätten die Jugendlichen das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. Das mache sie anfällig - vor allem in der Pubertät. «Die Betroffenen erleben eine Angst vor der Fragmentierung des eigenen Körpers, die mit Worten wie 'Depression' nur unzureichend beschrieben ist. Und dann bieten ihnen die Dschihadisten eine sichere Gruppe, Macht und die vermeintliche Chance, etwas zu erreichen.» Diese psychologische Dimension, die durchaus Nährboden für Terrorismus bilden könne, werde bislang unterschätzt, sagte auch der französische Islamforscher Olivier Roy kürzlich der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».

Ausführlich beschrieben wurden dagegen die sozialen Faktoren, die die Faszination für radikales Gedankengut zumindest teilweise erklären könnten. Die deutsch-jüdische Schriftstellerin Gila Lustiger benennt sie in ihrem Buch «Erschütterung»: Sie erinnert an die Entwicklung der Banlieues, der französischen Vororte, von denen heute viele soziale Brennpunkte sind - und betont zugleich, dass diese Herkunft keine Entschuldigung für Terrorismus sein kann.

Soziale Sinnsuche sei aber zumindest ein entscheidender Faktor, meint die muslimische Theologin Hamideh Mohagheghi: Einsamkeit und Orientierungslosigkeit zögen junge Menschen «dorthin, wo sie ein sinnvolles Leben vermuten». (KNA)

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