Die wandelbare Macht - IS steigt zur mächtigsten Terrorgruppe auf

Der IS hat in diesem Jahr militärische Niederlagen hinnehmen müssen. Als Antwort darauf änderte die Terrormiliz ihre Strategie und wendet sich nun dem «fernen Feind» zu - und läuft so Al-Qaida den Rang ab. Von Jan Kuhlmann

Der meist gesuchte Terrorist der Welt macht seinem Spitznamen «der unsichtbare Kalif» alle Ehre. Seit Abu Bakr al-Bagdadis überraschendem Auftritt vor mehr als einem Jahr in einer Moschee der nordirakischen Millionenstadt Mossul ist der Anführer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) wieder abgetaucht.

Regelmäßig kursierten 2015 Gerüchte, er sei getroffen, verletzt oder sogar getötet worden. Belege dafür? Fehlanzeige. Vielmehr wächst unter Dschihadisten sein Ruf als mysteriöser Anführer, der seinen Gegnern trotzt und nicht zu fassen ist.

Dabei hat seine Terrormiliz in diesem Jahr schmerzliche Niederlagen einstecken müssen. Sie übernahm zwar im Westen des Iraks die Provinzhauptstadt Ramadi und konnte auch syrische Regimetruppen aus der historischen Oasenstadt Palmyra vertreiben - gleichzeitig verlor sie aber strategisch oder symbolisch wichtige Gebiete. Den Kurden etwa gelang es, den IS aus der monatelang umkämpften nordsyrischen Stadt Kobane zu vertreiben. Zudem konnten sie die Hauptverbindungsstraße zwischen den IS-Hochburgen Mossul im Irak und Al-Rakka in Syrien unterbrechen.

In der internationalen Gemeinschaft wächst zugleich der Wille, den Kampf gegen den IS zu intensivieren. Deutschland unterstützt künftigmit «Tornado»-Aufklärungsjets die Luftangriffe der internationalen Koalition, die den IS unter US-Führung täglich bombardiert. Seit Ende September fliegt zudem Moskaus Luftwaffe massive Angriffe in Syrien, auch auf Stellungen der Dschihadisten.

Doch in den Stunden der Schwäche beweist die Terrormiliz ihre Wandlungsfähigkeit und Flexibilität, die sie schnell an neue Situationen anpassen lässt. Der IS lebt von seinem Expansionsdrang. Seine Popularität zieht er aus dem Ruf, eine starke, rücksichtslose Macht zu sein. Fehlen militärische Erfolge, um das zu untermauern, müssen sie ersetzt werden - durch Propaganda oder Terroranschläge.

So tauchten in diesem Jahr Videos auf, in denen die Extremisten jahrhundertealte Kulturgüter zerstörten, die unersetzbar sind. Im Norden des Iraks zertrümmerten sie einzigartige Figuren aus altorientalischer Zeit. Im syrischen Palmyra legten sie die bedeutenden Tempel Baal und Baal Schamin in Schutt und Trümmer.

Im Nachhinein wirken diese barbarischen Akte wie ein böses Vorspiel für die Terrorangriffe des IS in Paris oder in Ägypten, wo eine Bombe eine russische Urlaubermaschine zum Absturz brachte. Diese und andere Attentate sind ein deutlicher Hinweis für einen Strategiewechsel der Terrormiliz. Weil im eigenen Herrschaftsgebiet, dem «Kalifat», Erfolge gegen den «nahen Feinde» rar werden, wendet sich der IS dem «fernen Feind» im Ausland zu. Ins Visier der Miliz geraten dabei die «Kreuzfahrer», die im Irak und in Syrien gegen sie kämpfen.

Generell trieb der IS 2015 seinen Wandel von einer regionalen Kraft zu einem internationalen Netzwerk voran. Ableger der Extremisten finden sich mittlerweile nicht nur im Jemen, in Ägypten, Libyen oder Tunesien, sondern auch in Südostasien. So hat der IS seinem Konkurrenten Al-Qaida den Rang als mächtigste Terrororganisation abgelaufen. Dazu trägt auch das riesige Herrschaftsgebiet in Syrien und im Irak bei, in dem die Miliz zwar keinen vollwertigen Staat hat, aber doch ein «dschihadistisches Staatsbildungsprojekt», wie es der Nahost-Experte Volker Perthes in seinem Buch «Das Ende des Nahen Ostens» nennt.

Denn der IS hat dort nicht nur ein Gewaltmonopol mit Polizei und Geheimdienst errichtet, sondern kassiert auch Steuern. Er betreibt eine eigene Justiz, die der radikalsten Lesart des islamischen Rechts folgt. Die Extremisten beherrschen das Bildungssystem, organisieren Sozialunterstützung und verteilen Saatgut an Bauern. Mit Gegnern kennt der IS keine Gnade: «Er muss vor allem als totalitäres und gleichzeitig expansives und hegemoniales Projekt verstanden werden», urteilt Perthes.

Sogar Gerüchte über eine eigene Währung kursieren immer wieder. Ein aufwendig produzierter Film mit dem Titel «Die Rückkehr des Gold-Dinars» zählt unter den Dschihadisten zu den populärsten Videos. Darin droht der IS, das «satanische Finanzsystem» des Westens zu zerstören. Bislang ist eine eigene Währung nur ein Hirngespinst. Eigene Münzen aber will der IS schon geprägt haben. (dpa)

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