Die türkische Verfassungsreform - und eine Hintertür

Präsident Erdogans Verfassungsreform hat bislang alle erforderlichen Mehrheiten im Parlament erzielt. Nun geht sie in die entscheidende zweite Wahlrunde. Die Opposition befürchtet, dass Erdogan noch viel länger als bislang gedacht an der Macht in der Türkei bleiben könnte. Von Can Merey und Linda Say

Im Parlament in Ankara geht es häufiger zur Sache, gelegentlich fliegen auch Fäuste. Die Auseinandersetzungen im Streit über die Verfassungsreform sind jetzt von außergewöhnlicher Härte. Die Bilanz einer einzigen Sitzung: eine angebliche Bisswunde am Bein eines AKP-Abgeordneten, eine gebrochene Nase bei einem seiner Parteifreunde, ein beschädigtes Rednerpult. Es geht um nicht weniger als um einen Systemwechsel in der Türkei - der Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ermöglichen könnte, bis 2034 an der Macht zu bleiben.

In 18 Artikeln sind die Vorschläge von Erdogans AKP zusammengefasst, die den Präsidenten außerordentlich mächtig machen würden – zu mächtig, meinen die beiden Oppositionsparteien CHP und HDP, die eine Ein-Mann-Herrschaft befürchten.

Bei der ersten Wahlrunde kam dennoch jeder einzelne der 18 Artikel über die notwendige Mehrheit von 330 der 550 Abgeordneten. Die AKP konnte dabei auf Stimmen aus der ultranationalistischen MHP bauen: In der kleinsten der drei Oppositionsparteien scheint eine Mehrheit die Reform zu unterstützen.

In der Nacht zu Montag beendete das Parlament die erste Wahlrunde. Am kommenden Mittwoch soll die entscheidende zweite Runde im Parlament beginnen, an deren Ende nach derzeitiger Planung schon am Samstag die Abstimmung über das Gesamtpaket stehen könnte. Sollten - wie erwartet - erneut die erforderlichen Mehrheiten von jeweils mindestens 330 Abgeordneten zustande kommen, soll es im Frühjahr zur Volksabstimmung kommen. Geht alles nach Erdogan Plan, sollen Präsident und Parlament am 3. November 2019 erstmals gemeinsam gewählt werden.

Erdogan könnte dann noch deutlich länger an der Macht bleiben als bislang angenommen. Zwar soll die Amtszeit des Präsidenten auch in der geänderten Verfassung auf zwei Perioden beschränkt sein. Doch die AKP hat in Artikel 11 eine Hintertür eingebaut: «Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren», heißt es dort.

Eigentlich läuft Erdogans erste Amtsperiode als Präsident schon seit seiner Wahl zum Staatschef 2014. AKP, CHP und auch der unabhängige Verfassungsrechtler Prof. Ersan Sen sind sich aber einig darin, dass die Verfassungsreform den Zähler quasi wieder auf Null setzen würde.

Das von der CHP befürchtete Szenario sähe so aus: Erdogan gewinnt die Wahl am 3. November 2019 und auch die nächste 2024. Vor Ablauf seiner zwei Amtsperioden im November 2029 löst das Parlament dann mit der nötigen Mehrheit Neuwahlen aus - die Erdogan wieder gewinnt.

«Wer nach der zweiten Wahlperiode immer noch so viele Stimmen auf sich vereinigen kann, dem sollte aufgrund der Gunst beim Volk auch volle Legitimation zuerkannt werden, denke ich», sagt der AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroglu zu diesem Szenario. Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrikulu meint dagegen: «Der Artikel 11 wurde für einen Anführer entworfen, der permanent an der Macht bleiben will.»

Erdogan weist den Verdacht empört von sich, dass das von ihm seit Jahren mit aller Kraft vorangetriebene Präsidialsystem auf ihn persönlich zugeschnitten sein könnte. «Diese Sache hat doch bitte nichts mit meiner Person zu tun», sagt er. «In der Türkei wird eine Verfassungsänderung durchgeführt, nur darum geht es. Wer weiß schon, wer sich an einer zukünftigen Präsidentenwahl beteiligt, wer sie gewinnt, wer stirbt und wer am Leben bleibt?»

Niemand rechnet allerdings damit, dass Erdogan bei der Wahl 2019 nicht antreten wird. Anzeichen von Amtsmüdigkeit hat der 62-Jährige bislang nicht erkennen lassen. 2003 wurde er Ministerpräsident, 2014 Staatschef. 2034 wäre er mehr als 30 Jahre lang an der Macht.

Dass die amtszeitverlängernde Klausel in Artikel 11 nur gilt, wenn das Parlament die Neuwahlen mit einer Dreifünftelmehrheit veranlasst, dürfte kaum ein wirksamer Schutzmechanismus sein. Mit der Verfassungsreform soll das Verbot gekippt werden, wonach der Präsident keiner Partei angehören darf. Es hat Erdogan sowieso nie davon abgehalten, die AKP zu lenken.

Nur eine Frage der Zeit dürfte es sein, bis Erdogan nicht nur der heimliche, sondern auch wieder der offizielle Parteichef wäre. Und welchen Einfluss Erdogan schon jetzt im Parlament hat, zeigen die in der ersten Runde erzielten Mehrheiten für die Verfassungsreform – mit der sich die Abgeordneten schließlich selber entmachten würden. (dpa)