Die leise feministische Revolution

In vielen arabischen Staaten hat der rasante demographische Wandel auch zwangsläufig zu einer Umverteilung der Macht zwischen Männern und Frauen geführt, die das Patriarchat zunehmend schwächt, schreibt die Soziologin Gema Martín Muñoz in ihrem Essay.

Dossier von Gema Martín Muñoz

Arabische Gesellschaften erscheinen Außenstehenden oftmals starr und resistent gegen Veränderungen, weil diese ihren Blick auf die herrschenden Regime dieser Länder richten, die sich tatsächlich gegen Entwicklung und Wandel stellen.

Allerdings ist dieses Bild beinahe das Gegenteil der Realität in arabischen Gesellschaften, wo eine enorme Dynamik vielen Arten des Wandels die Türen öffnet, wenn auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und auf komplexe und widersprüchliche Art – vor allem, wenn der Wandel von unten durch Maßnahmen von oben gebremst wird.

Man denke an arabische Frauen. Hier herrscht das Bild einer passiven, fremdartigen und verschleierten Frau in der Opferrolle vor, die auf Ereignisse reagiert, anstatt aktiv daran teilzunehmen. Sie ist das gesichtslose Objekt gängiger Stereotype, die kulturelle Vorurteile nähren.

Frauen im Blickpunkt der Gesellschaft

Die jemenitische Friedensnobelpreisträgerin Tawakkul Karman; Foto: Andrew Medichini/AP/dapd
Ikone des demokratischen Aufbruchs und des neuen politischen Selbstbewusstseins der Frauen in der arabischen Welt: die jemenitische Friedensnobelpreisträgerin Tawakkul Karman

​​Tatsächlich befinden sich arabische Gesellschaften in einem Prozess des immensen und unumkehrbaren Wandels, in dem Frauen eine entscheidende Rolle spielen. Aufgrund einer intensiven Urbanisierung und der Feminisierung der Arbeit in allen arabischen Ländern in den letzten fünfzig Jahren traten Frauen massiv in den Blickpunkt der Öffentlichkeit.

Überall verringerten sich in dieser Zeit die Unterschiede hinsichtlich der Ausbildungsniveaus von Jungen und Mädchen - obwohl durchaus in verschiedenen Geschwindigkeiten. In vielen arabischen Ländern besuchen heute mehr Mädchen als Jungen Sekundarschulen oder höhere Bildungseinrichtungen.

Dies zeigt, dass Eltern der Bildung ihrer Töchter ebenso viel Bedeutung beimessen wie der ihrer Söhne. Und alle Untersuchungen zeigen, dass junge Männer und Frauen eine abgeschlossene Ausbildung und einen Job haben möchten, bevor sie heiraten. (Außerdem wollen sie auch zunehmend ihre Partner selbst aussuchen.)

Die Folgen des demographischen Wandels

Schülerin in Libyen; Foto: Essam Zuber/DW
Auf Augenhöhe mit den Jungen: In vielen arabischen Ländern besuchen heute mehr Mädchen als Jungen Sekundarschulen oder höhere Bildungseinrichtungen, meint Gema Martín Muñoz.

​​Neben sozialen und wirtschaftlichen Faktoren erzwingt zugleich ein demographischer Wandel grundlegende Veränderungen des traditionellen arabischen Familienmodells. Ein höheres Heiratsalter und abnehmende Fruchtbarkeit – direkte Folge der immer weiter verbreiteten Anwendung der Empfängnisverhütung – führen zu einer Verkleinerung der Familie, die nun in ihrem Umfang den "Kernfamilien" des Westens näher kommt.

Die Maghreb-Region spielt in dieser Hinsicht vielleicht eine Vorreiterrolle, aber das Phänomen ist in der gesamten arabischen Welt, sogar in den konservativsten Ländern, zu beobachten.

Dieses neue Familienmodell hat mittlerweile eine so starke Dynamik entwickelt, dass es sich auch in der ländlichen Gesellschaft ausbreitet, wo der Niedergang der Agrarökonomie von einer deutlichen Tendenz in Richtung kleinere Familien begleitet wird. Dieser Wandel vollzieht sich in der arabischen Welt mit leicht unterschiedlichen Geschwindigkeiten, aber er vollzieht sich in den Städten und auf dem Land gleichermaßen.

Geschwächtes Patriarchat

Kein Wunder, dass diese Veränderungen zu einer Umverteilung der Macht zwischen Alten und Jungen – und zwischen Männern und Frauen – führt. Wir sind momentan Zeugen einer fortschreitenden Schwächung des Patriarchats, die durch eine Verschiebung von der traditionellen Großfamilie hin zur kleineren Kernfamilie untermauert wird.

Selbstverständlich markieren diese Veränderungen keinen Bruch mit der Vergangenheit. Sie spiegeln vielmehr lokale Kompromisse mit der Tradition und den patriarchalischen Gesetzen sowie unterschiedliche Anpassungsgeschwindigkeiten an neue Lebensmodelle wider. Allerdings sind diese Veränderungen in Ländern wie Palästina und dem Irak, aufgrund der dort bestehenden tief greifenden Konflikte, bedeutend schwächer ausgeprägt.

Die Dynamik des Wandels in den arabischen Gesellschaften ist selten von einer Veränderung des politischen Systems begleitet. Die meisten Staaten wehren sich dagegen, die Prozesse des sozialen Wandels in ihr rechtliches Rahmenwerk zu übernehmen. Aus gutem Grund fürchten sie, dass eine Ausweitung der Freiheiten und die Entwicklung individueller Autonomie innerhalb der Familie – und damit die Schwächung der patriarchalischen Autorität – zu einer Infragestellung der ideologischen Basis der Staatsgewalt in der Öffentlichkeit führen könnte.

Staatsfeminismus als politische Symbolik

Die Regierungen antworten darauf verbreitet mit der Beschwörung religiöser Normen und - in geringerem Ausmaß – der Tradition, um die Fortführung der patriarchalischen Herrschaft zu legitimieren. Der "Staatsfeminismus" ist insgesamt weniger echter Motor des Wandels, als vielmehr eine Demonstration rhetorischer und politischer Symbolik, bei der es primär um die Vermittlung eines progressiven Images auf internationaler Ebene geht.

Irakische Frauen wollen mehr Beteiligung an das politische und gesellschaftliche Leben; Foto: DW/Karlos Zurutuza
Die Dynamik des Wandels in den arabischen Gesellschaften ist in Ländern wie dem Irak aufgrund der dort bestehenden tief greifenden Konflikte bedeutend schwächer ausgeprägt, schreibt Gema Martín Muñoz.

​​Allerdings werden die politischen Autoritäten der Region nicht weniger als die Familien selbst gezwungen sein, die Widersprüche des traditionellen Modells zu akzeptieren, wenn es um die Veränderung der Bedingungen für die Frauen geht. Dieser Wandel wird Auswirkungen auf vieles andere haben und muss aus arabischer Perspektive ebenso analysiert werden wie von außen.

Dies ist vor allem deshalb notwendig, weil die Situation der Frauen einer der wichtigsten Maßstäbe ist, die der Rest der Welt – und hier vor allem der Westen – anlegt, um die arabische Welt zu beurteilen. Unglücklicherweise tendieren diese Beurteilungen dazu, sich auf die vermeintliche Unbeweglichkeit zu konzentrieren, die ihren Ursprung in islamischen Normen hat. Das verschleiert den Blick auf die echten, momentan stattfindenden Veränderungen.

Tatsächlich untergraben die vorherrschenden Ansichten über die arabische Gesellschaft die Fähigkeit Außenstehender, sich von ihrem Glauben zu befreien, wonach der Islam alle arabischen Frauen in der gleichen Weise einschränkt, obwohl sie in der Realität mit sehr unterschiedlichen Bedingungen konfrontiert sind.

Dadurch können viele die tief greifenden Veränderung in den arabischen Gesellschaften – und wie diese von den Frauen vorangetrieben werden – nicht erkennen und noch weniger beurteilen. Der Westen läuft deshalb Gefahr, sich selbst einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis der arabischen Welt von heute und von morgen zu nehmen.

Gema Martín Muñoz

© Project Syndicate 2012

Gema Martín Muñoz ist Direktorin des Casa Árabe und Professorin für Soziologie der arabischen und islamischen Welt an der Universidad Autónoma de Madrid (UAM).

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de