''Das Zeitalter der kulturellen Abschottung ist vorbei''

Die marokkanische Fusion-Sängerin Oum El Ghaith Benessahraoui, alias "Oum", bezieht sich in ihren Songs bewusst auf ihre afrikanische Identität. In Kürze erscheint ihr erstes internationales Album "Suerti". Martina Sabra hat "Oum" in Casablanca getroffen.

In Kürze erscheint Ihr neues Album, "Suerti". Was verbirgt sich hinter dem Titel?

Oum El Ghaith Benessahraoui: "Suerti" ist ein marokkanisches Dialektwort. Es ist aus dem Spanischen entlehnt und heißt "Schicksal" oder "Glück". In meiner Heimatstadt Marrakesch wird dieses Wort unterschiedlich benutzt. Unter anderem ist "suerti" ein Sammelbegriff für Glücksspiele, wie man sie auf Jahrmärkten findet. Deshalb sagt ein Marrakschi, der zur Kirmes geht, auch: "Ich gehe zum suerti!" Ich habe das Album so genannt, weil "suerti" eine spielerische, verträumte Wirklichkeit und Gelassenheit suggeriert. Ob man nun "suerti" hat oder nicht: Niemand kann sein Leben total kontrollieren. Vieles ist vorbestimmt, ob man es nun glaubt oder nicht.

Was ist musikalisch neu an dem Album? Welche Themen behandeln die Songs?

Benessahraoui: In den meisten Songs geht es um Liebe und Sinnlichkeit. Aber ich will auch zeigen, wie sehr Marokko das Tor zwischen Afrika und Europa ist. Das Stück "Harguin" erzählt von den afrikanischen Flüchtlingen, die von Europa träumen. Das Stück habe ich mit "Blitz the Ambassador" zusammen gemacht, ein Rapper aus Ghana, der mittlerweile in New York lebt.

Ein anderes Stück erzählt von der Globalisierung. Anders als bei meinem ersten Album "Likum" haben wir dieses Mal fast nur akustisch gearbeitet. Alle Instrumente wurden original eingespielt. Ich wollte mehr von mir selbst auf dem Album hören, weniger Arrangements und Effekte.

Sie haben Architektur studiert und sind musikalisch weitgehend Autodidaktin. Ihre Karriere begann in einem Gospelchor in Marrakesch. Wie kamen Sie als Muslimin zu dieser christlichen Musik?

Benessahraoui: Ich war damals 14 oder 15 Jahre alt und ein großer Fan von Whitney Houston. Irgendwann kam durch das Institut français ein US-Amerikaner mit jamaikanischen Wurzeln in die Stadt. Er lud uns ein, einen Gospelchor zu gründen. Ich war sofort dabei. Wir sangen jamaikanische Lieder und traditionelle amerikanische Gospel wie "Jesus loves me". Ich habe damals die Überzeugung gewonnen, dass es nichts Schlechtes sein kann, diese Liebe zu besingen – egal welche Sprache man spricht und an welchen Gott man glaubt. Der Chor hat mir geholfen, meine Stimme und meine Technik zu entwickeln.

Ihren bisher größten Hit in Marokko landeten Sie im Jahr 2005. Er hieß "Hamdulillah". Einige konservative Landsleute haben Sie damals kritisiert, weil sie Ihren Bühnenauftritt zu freizügig fanden.

Benessahraoui: "Hamdulillah" war meine erste eigene Single. Ich habe den Song selbst geschrieben. Wenn ich damit auf der Bühne stehe, singe ich auf Englisch und Arabisch und tanze dazu. "Hamdulillah" bedeutet "Gott sei Dank". Für mich ist dieser Song eine Art, meine Liebe zum Leben und zur Schöpfung auszudrücken und dazu gehört auch, dass ich in schulterfreien Kleidern auftrete und mir die Freiheit nehme, mich zu bewegen, wie ich will, mit meiner Sinnlichkeit als afrikanische und arabische Frau. Ich finde es wichtig, zu zeigen, dass ich eine gläubige Muslimin sein kann, auch ohne ein Kopftuch zu tragen. Ich bin Muslimin, aber ich bestimme selbst über mein Leben.

Marokko liegt geographisch in Afrika, doch wenn man sich im Land bewegt, hat man oft das Gefühl, dass das arabische und europäische Erbe dominiert, während die afrikanischen Wurzeln des Landes nur eine geringe Rolle spielen. Ihre Musik, Ihre Kostüme und Ihre Bühnenshow sind stark afrikanisch geprägt. Warum?

Benessahraoui: Ich fühle mich als Marokkanerin nicht so sehr zum Nahen Osten gehörig, sondern eher zu Afrika. Wir Maghrebiner sind ja nun einmal gleichzeitig Araber und Afrikaner, und ich betone das gern. Vielleicht hat das mit meiner Kindheit zu tun. Als ich klein war, hatte ich ein Kindermädchen aus dem tiefen Süden Marokkos.

​​Aber davon abgesehen, gibt es in Marokko nicht nur die Traditionen aus Subsahara-Afrika. Die Berber in den marokkanischen Bergregionen haben eine ganz andere Kultur, aber sie gehören auch zu Afrika. Die Leute sehen bei mir immer als erstes den Turban. Aber ich trage auch ganz bewusst Schmuck der Amazigh, der berberischen Ureinwohner Nordafrikas.

Afrika ist eine wichtige Konstante in ihrer Arbeit. Seit neuestem arbeiten Sie mit dem berühmten Saxofonisten Manu Dibango aus Kamerun zusammen. Wie kam es dazu?

Benessahraoui: Im Juli 2011 traf ich in Casablanca Wayne Beckford, der einige Titel für Manu Dibango komponiert hat. Wayne und ich spielten auf derselben Bühne, und wir fanden uns sympathisch. Er hat ein kleines Video von meinem Auftritt auf der Bühne gedreht und es Manu Dibango gezeigt. Daraufhin hat Manu Dibango mir angeboten, ein Stück auf seinem neuen Album zu singen. Und im November 2011 lud er mich ein, mit ihm im "Casino de Paris" aufzutreten. Es war eine großartige Begegnung, mit all den Musikern, Künstlern und Diplomaten aus Afrika und aus Kamerun. Manu Dibango ist sehr liebenswürdig und großzügig, wie ein Großvater mit seinen über siebzig Jahren. Wir werden in 2012 wahrscheinlich gemeinsam auf der Bühne stehen.

Als Anfang 2011 in Marokko zehntausende Menschen auf die Straße gingen und gegen die Korruption protestierten, waren auch die Musikfestivals in der Kritik, die teilweise mit staatlichen Geldern subventioniert werden. Sind die Musikfestivals in Marokko eine Sache der Eliten?

Benessahraoui: Nein, das ist zu pauschal gesagt. Bei den meisten Festivals ist der Eintritt frei oder sehr günstig. Eine Ausnahme ist "Mawazine" – und um dieses Festival ging es in den Debatten ja auch hauptsächlich. Bei "Mawazine" sind die Karten im Bereich vor der Bühne so teuer, dass fast nur Ausländer sie sich leisten können.

Die marokkanische Fusion-Sängerin Oum El Ghaith Benessahraoui mit ihrer Band; Foto: &copy lofmusic
"Wir Maghrebiner sind nun einmal gleichzeitig Araber und Afrikaner, und ich betone das gern": Die marokkanische Fusion-Sängerin Oum El Ghaith Benessahraoui mit ihrer Band

​​Damit kommt es bei den Konzerten zu einer Trennung zwischen Ausländern und Marokkanern, und das ist nicht gut. Außerdem finde ich, dass "Mawazine" nicht nur große internationale Künstler zeigen sollte. "Mawazine" müsste viel mehr als bisher ein Ort sein, wo Marokko dem internationalen Publikum seine jungen Talente präsentiert.

Nordafrika erlebt gegenwärtig eine Welle des Konservatismus. Haben Sie das Gefühl, dass der Maghreb sich abschotten wird?

Benessahraoui: Nein, das glaube ich nicht. Dass die Menschen den religiösen Ideen folgen, hat einen einfachen Grund. Nachdem sie jahrelang unterdrückt waren, atmen sie nun endlich durch und sagen: 'Schau, ich existiere! Ich bin auch da!' Sie haben das erste Mal das Gefühl, dass sie ernst genommen werden und dass sie etwas wert sind. Wenn die Menschen dieses Stadium durchlebt haben, wird man sehen, dass in all dem auch eine Chance steckt. Die Debatten sind in den letzten Monaten viel lebendiger und dynamischer geworden. Viele trauen sich nun endlich hinter dem Vorhang hervor und sagen zum ersten Mal offen, was sie denken. Das finde ich gut.

Rechnen Sie damit, dass die Islamisten die Freiheit der Kunst und Kultur einschränken werden?

Benessahraoui: Ich glaube nicht, dass sie das schaffen. Wir haben in Marokko eine neue Generation, die eine starke eigene Kultur besitzt. Wir sind dabei aufzuwachen, ideologisch, kulturell – in jeder Richtung. Klar, der neue Premierminister (der Islamist Abdelilah Benkirane; Anmerkung der Redaktion) ist nicht mein Kumpel. Ich bin ganz klar in der Opposition. Aber ich sehe keinen Anlass für Alarmismus. Die Künstler werden weitermachen. Sich abschotten, geht heute nicht mehr.

Interview: Martina Sabra

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de