Die Gesichter des IS: Eine Typologie US-amerikanischer Dschihadisten

Warum schließen sich Menschen einer brutalen Terrormiliz an? Suchen sie Anerkennung, einen Lebenszweck oder puren Kick? In den USA sind terrorbezogene Festnahmen auf dem höchsten Stand seit 9/11. Forscher rätseln, wie ein normales Leben ins Radikale abdriften kann. Von Johannes Schmitt-Tegge

Zum Beispiel Christopher Lee Cornell. Er besuchte eine High School in der Nähe von Cincinnati (Ohio), nahm an Ringkämpfen der Schulmannschaft teil, und eigentlich hatten ihn Lehrer als «typischen Schüler» in Erinnerung. 2014 konvertierte er zum Islam, ließ seinen Bart wachsen und trug zunehmend traditionelle muslimische Kleidung.

Doch dann begann er, sich zu verändern. Irgendetwas hatte ihn in den Bann des islamistischen Terrors gezogen. Cornell wurde oft wütend, isolierte sich und zog den Spott seiner Nachbarn auf sich. Und dann, eines Tages, informierte er Mitstreiter im Internet, das Kapitol in Washington angreifen und Rohrbomben zünden zu wollen. Als das FBI ihn Anfang 2015 festnahm, hatte er schon halbautomatische Sturmgewehre und 600 Schuss Munition gekauft.

Was bewegt Menschen dazu, einer barbarischen Terrorgruppe wie dem Islamischen Staat (IS) zu folgen, deren mörderische Ideologie zu verbreiten und zum Krieg in den Nahen Osten zu reisen oder Attacken in der Heimat zu planen? Welcher Schalter legt sich im Kopf um, der einen «typischen Schüler» zu einem Terroristen macht?

Alter, Herkunft, Bildung, sozialer Stand und familiärer Hintergrund der IS-Sympathisanten unterscheiden sich deutlich, wie die neue Untersuchung «ISIS in America: From Retweets to Raqqa» der George Washington Universität (GW) in der US-Hauptstadt feststellt. Sie befasst sich nur mit Anhängern in den USA, könnte aber durchaus als Vorlage für Rekruten aus Deutschland, Frankreich oder anderen europäischen Ländern gelten.

56 Menschen wurden wegen IS-bezogener Handlungen seit Jahresbeginn in den Vereinigten Staaten festgenommen - die höchste Zahl an terrorbezogenen Festnahmen pro Jahr seit dem September 2001, dem Monat der Anschläge von 9/11. 86 Prozent von ihnen sind männlich, gut ein Viertel war an Plänen zu Terrorattacken auf US-Boden beteiligt. Im Schnitt sind sie 26 Jahre alt. Die meisten von ihnen sind US-Bürger oder haben einen ständigen Wohnsitz in den USA.

Oft sammeln sie sich in Gruppen, etwa in Minneapolis oder New York. Politische Spannungen, etwa die Gewalt des syrischen Machthabers Baschar al-Assad gegen das eigene Volk, aber auch einschneidende persönliche Erlebnisse können zur Radikalisierung beitragen.

Analyst Matt Venhaus unterteilt etwa in nach Rache, Status, Identität und Nervenkitzel suchenden Dschihadisten. «Radikalisierung ist ein höchst komplexer und individualisierter Prozess, der oft durch ein schlecht verstandenes Zusammenspiel struktureller und persönlicher Faktoren geformt wird», schreiben die Forscher Lorenzo Vidino und Seamus Hughes in der GW-Untersuchung.

Eine klare Typologie lässt sich daher kaum festlegen. «Von erwachsenen Männern, die seit mehr als einem Jahrzehnt mit dem Kampfgeist des Dschihad flirten, über Teenager, die erst kürzlich zum Islam konvertiert sind, vom Sohn eines Polizisten aus dem Raum Boston zu einer Single-Mutter zweier junger Kinder» seien unterschiedlichste Menschen vertreten. Einige sind nur von der IS-Botschaft inspiriert, andere erreichen mittlere Führungspositionen innerhalb der Miliz.

Auch deutsche Ermittler ringen mit der Gefahr der IS-Anhänger und Heimkehrer. So ist die Zahl der aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak gereisten Islamisten nach Angaben des Bundesamts für Verfassungsschutz im September auf 740 gestiegen - im Juni waren es etwa 700. Dazu kommen Tausende aus anderen EU-Ländern, Russland, Zentralasien und Nordafrika. Die Vereinten Nationen schätzen, dass bereits mehr als 25.000 ausländische Kämpfer aus über 100 Ländern dem IS nach Syrien und in den Irak gefolgt sind, 5.000 davon aus Europa.

«Das Problem ist nicht so groß wie in EU-Ländern», sagt Wissenschaftler Vidino. Doch die Zahl der IS-Anhänger in den USA sei beispiellos. Den Anstieg der Festnahmen führt sein Kollege Hughes neben der zunehmenden Propaganda im Internet auch auf die «Kreativität» der Strafverfolger zurück.

Die gehen bei ihren Festnahmen seit 9/11 teils mit bedenklichen Methoden vor. Denn bei sogenannten «Sting Operations» werden Verdächtige zu kriminellen Handlungen angespornt. Doch wer kann versichern, ob ein mutmaßlicher Dschihadist wirklich einen Terroranschlag geplant und ausgeführt hätte, wenn ein verdeckter FBI-Agent ihn nicht per Twitter oder Facebook kontaktiert und dann zur Entgegennahme einer Bombenattrappe animiert hätte, nur damit die Handschellen klicken? 

«Das ist letztes Mittel, wenn andere Methoden nicht funktionieren», versichert Michael Downing, Kommandeur der Anti-Terror-Einheit der Polizei in Los Angeles, der Deutschen Presse-Agentur. FBI-Direktor James Comey habe in dieser Frage in den letzten zwölf Monaten einen «Sinneswandel» durchgemacht. Doch seit dem Aufstieg der Agents Provocateurs nach 9/11 dürfte auch das FBI rechtlich «Orte betreten, von denen sie nie geträumt hätten», sagt Downing. (dpa)

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