"Die Arroganz von San Remo": Vor 100 Jahren besetzten Briten und Franzosen den Nahen Osten

Im April 1920 errichteten Frankreich und Großbritannien ihre Herrschaft im Vorderen Orient. Den Willen der Araber nach Selbstbestimmung wischten sie vom Tisch. Die Vergewaltigung einer Weltregion wirkt bis heute nach.

Frühling 1920. Der Erste Weltkrieg ist seit eineinhalb Jahren vorbei. Im italienischen San Remo treffen sich von 19. bis 26. April die Siegermächte, um über die Zukunft der arabischen Gebiete zwischen Mittelmeer und Persischem Golf zu entscheiden. Jahrhundertelang gehörten sie zum Osmanischen Reich, das den Krieg 1918 verloren hat. Doch die Araber wechseln nur die Fremdherrschaft.

Die Resolution von San Remo überträgt Frankreich das Mandat für Syrien/Libanon - und Großbritannien die Mandate für Palästina, Jordanien und den Irak. In Palästina sollen die Briten zudem den Aufbau einer "jüdischen Heimstätte" fördern. Vor 100 Jahren schlägt damit in dem Badeort an der Riviera die Stunde des Nahost-Konflikts.

Die Konferenz wurde ein Musterbeispiel für die Arroganz der beiden Großmächte. Schon das Konstrukt "Mandat" war ein Affront gegen den Freiheitswillen der Araber. Es ging davon aus, dass sie, politisch unreif, zur Selbstverwaltung noch nicht in der Lage seien. Zivilisierte Kolonialherren sollten sie im Auftrag des Völkerbunds an die Hand nehmen und auf die Unabhängigkeit vorbereiten. De facto ummantelten Briten und Franzosen damit nur ihre imperialistischen Interessen. Frankreich hatte aus seinem Anspruch auf die Levante nie ein Hehl gemacht und fühlte sich seit den Kreuzzügen als Schutzherr der dortigen Christen.

Großbritannien spielte ein dreifaches Spiel: 1915 hatte es Hussein, dem Scherifen von Mekka aus der Dynastie der Haschemiten, ein arabisches Reich versprochen und die Araber damit zum Aufstand gegen die Türken angestachelt. Aber schon im folgenden Jahr legten London und Paris im geheimen Sykes-Picot-Abkommen ihre jeweiligen Einflussgebiete fest.

1917 schließlich sagte Außenminister Lord Balfour in der Balfour-Deklaration britisches Wohlwollen "bei der Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" zu. Damit sicherte sich das Empire die Unterstützung der einflussreichen zionistischen Bewegung.

Dennoch hofften die Araber nach dem Krieg immer noch auf Selbstbestimmung. Ein syrischer Nationalkongress erklärte im März 1920 die Unabhängigkeit Syriens inklusive Libanon und Palästina, entwarf eine Verfassung und ernannte Feisal, einen Sohn Husseins, zum König. Von den Briten im Stich gelassen, vertrieben ihn französische Truppen nach der Konferenz von San Remo aus Damaskus.

Geschickt nutzten die Franzosen Syriens konfessionelle Vielfalt und teilten das Land in mehrere "Staaten" unter ihrer Fuchtel, darunter den fragilen Libanon. Immer wieder kam es in den 1920er und 30er Jahren zu Aufständen von Drusen und Sunniten. Paris sperrte sich hartnäckig gegen jede Unabhängigkeit. Noch kurz vor ihrem Rückzug aus Syrien bombardierte die französische Mandatsmacht, gerade erst der deutschen Okkupation entronnen, 1946 Damaskus. Der Luftangriff forderte Hunderte Tote.

Auch die Briten wurden ihrem "Mandat" kaum gerecht. Nur das 1946 unabhängige Jordanien wurde unter haschemitischen Herrschern zu einem halbwegs konfliktfreien Staat. Im Irak, wo man den verjagten Feisal als Marionettenkönig installierte und Rebellionen mit der Royal Air Force niederschlug, ging es London vor allem um die Ausbeutung der Ölfelder, auch nach der formellen Unabhängigkeit des Landes 1932. Zur Machtsicherung spielte England Schiiten und Sunniten gegeneinander aus und gab letzteren das Kommando über die irakische Armee - ein böses Erbe bis in die Zeit Saddam Husseins.

Die Lage in Palästina geriet derweil völlig außer Kontrolle. Großbritannien schaffte es nicht, die jüdische Einwanderung und Landnahme mit den Interessen der arabischen Bevölkerung in Einklang zu bringen. Ständige Gewalt zwischen beiden Seiten und der arabische Aufstand 1936 bis 1939 waren die Folge. Nach der Staatsgründung Israels 1948 zogen sich die Briten gescheitert zurück und hinterließen der Welt einen schier endlosen Konflikt.

In Kürze erscheint ein Buch der US-Historikerin Elizabeth F. Thompson mit dem prägnanten Titel: "Wie der Westen den Arabern die Demokratie stahl". Ihre These: 1920 zerstörten die Großmächte die Chance auf eine friedliche Entwicklung im Nahen Osten, indem sie das Bündnis zwischen liberalen, christlichen und islamischen Kräften ihrer Machtgier unterwarfen - mit allen katastrophalen Folgen für die Region bis heute, von der syrischen Dauerdiktatur bis zum Islamismus.

Es wäre zu einfach, London und Paris die Alleinschuld an der heutigen Misere zu geben. Doch die Arroganz von San Remo wurde zur Hypothek für ein ganzes Jahrhundert. (KNA)