«Der Jemen zerbröckelt» - Hilfsorganisationen appellieren an internationale Gemeinschaft

UN, Rotes Kreuz und Ärzte ohne Grenzen sind sich einig: Der neu aufgeflammte Bürgerkrieg droht den Jemen zu zerstören. Schnellstens müsse mehr für die Zivilbevölkerung getan werden. Deren Not ist größer denn je. Von Alexander Pitz

Wenn Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen über die Lage im Jemen berichten, wird schnell klar: In dem Bürgerkriegsland im Nahen Osten geschehen seit März solch furchtbare Dinge, dass selbst erfahrene Helfer um Worte ringen. «Katastrophal, »immenses Leid«, »besonders alarmierend«, »dramatische Folgen«; das sind nur einige der Formulierungen, mit denen sie versuchen, die Vorgänge im Jemen zu beschreiben.

Ein Blick auf die nackten Zahlen zeigt, wie ernst die Situation in dem Krisengebiet tatsächlich ist. Laut einer UN-Mitteilung vom Dienstag leben derzeit fast 13 Millionen Menschen ohne gesicherten Zugang zu Nahrung; fast eine Million Kinder seien akut unterernährt. Das Rote Kreuz geht von fast 4.000 Toten und mehr als 19.000 Verletzten aus. 1,3 Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen.

Wie konnte das Elend ein solches Ausmaß annehmen? In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten befand sich der Jemen permanent im Bürgerkriegszustand. Schiiten, Sunniten, Dschihadisten und Stammeskrieger verwickelten sich andauernd in immer neue bewaffnete Konflikte. Dennoch war der Staat im Süden der Arabischen Halbinsel bis vor kurzem kein Thema, über das westliche Medien größer berichteten. Zu sehr lag der Fokus auf den anderen Krisenherden in Nahost. Inzwischen aber melden sich täglich Experten und Augenzeugen aus dem Jemen zu Wort, die alle ein Ziel haben: die Welt wachzurütteln.

»Seit März hat das Land ein neues schreckliches Gesicht«, sagt Teresa Sancristoval, Nothilfe-Koordinatorin der Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). Am 26. März hat sich eine von Saudi-Arabien angeführte internationale Militärallianz entschlossen, im Jemen zu intervenieren. Mit Waffengewalt wollte sie den Vormarsch der schiitischen Huthi-Rebellen stoppen. Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate sind beteiligt, aber auch Frankreich und die USA unterstützen die Operation. Al-Kaida und die Terrormiliz »Islamischer Staat« mischen ebenfalls in dem Bürgerkrieg mit und verfolgen jeweils eigene Interessen.

Leidtragender dieser explosiven Gemengelage ist die Zivilbevölkerung. Wer oder was genau gerade angegriffen wird, ist bei der Vielzahl der Kollateralschäden oft schwer zu sagen. »Im Minutentakt gehen Bomben auf dicht besiedeltes Gebiet nieder«, berichtet MSF-Projektleiterin Sancristoval. Nicht mal Schulen, Märkte, Flüchtlingslager oder Krankenhäuser blieben verschont. Die Auswirkungen auf die humanitäre Lage seien desaströs.

In vielen Regionen gibt es keinen Treibstoff mehr für Pumpen, um das ohnehin knappe Trinkwasser aus dem Boden zu fördern. In der Folge haben sich die Wasserpreise verdoppelt. »Viele Menschen geben nun zwei Drittel ihres Einkommens für Wasser aus«, so Sancristoval. Hinzu komme, dass die von den Saudis angeführte Kriegskoalition eine Einfuhrblockade verhängt habe; dies mache selbst die Einfuhr lebenswichtiger Güter wie Nahrung und Medikamente unmöglich. »Im vergangenen Monat sind elf unserer Dialyse-Patienten gestorben, weil wir keine Mittel hatten, um sie zu behandeln«, klagt die MSF-Helferin. In den Krankenhäusern fehlten meist sogar die notwendigen Apparate oder der Strom, um sie zu betreiben.

Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), appelliert an die internationale Gemeinschaft, dringend mehr zu tun, um der Zivilbevölkerung zu helfen. »So kann es nicht weitergehen. Der Jemen zerbröckelt«, sagt er. Teresa Sancristoval stimmt zu: »Wir brauchen mehr Druck auf alle Kriegsparteien, um zu einer politischen Lösung zu gelangen. Bislang gibt es von der Weltgemeinschaft keine Reaktion auf die neue Stufe der Gewalt.« (KNA)

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