Gefangen im System

Eigentlich, so fanden manche iranische Oppositionelle, sei ihre gescheiterte "grüne Revolution" von 2009 in vieler Hinsicht Modell für die Revolten in der arabischen Welt gewesen. Doch warum profitiert die iranische Opposition jetzt nicht vom demokratischen Aufbruchsgeist in der Region? Von Reza Hajatpour

Die Welle der arabischen Protestbewegungen hat eine Aufbruchstimmung in die islamische Welt getragen, die fast allenthalben positives Echo fand. Die muslimische Bevölkerung hat die bestehenden repressiven Systeme satt.

So gesehen ließe sich beinahe sagen, dass der politische und religiöse Machtkampf, wie er in Iran seit Jahren geführt wird, nun einen großen Teil der islamischen Welt erfasst und dabei neue Formen angenommen hat.

Die Opposition in Iran hoffte aus der Protestwelle neue Kraft für den eigenen Widerstand zu schöpfen; aber auch die Regierung in Teheran versuchte, ihre Volksnähe und ihre Solidarität mit der arabischen Revolte zur Schau zu stellen.

Neokonservative Revolutionäre

Zumindest auf offizieller Ebene hatte Iran über lange Zeit stets versucht, gegen außen hin Geschlossenheit zu demonstrieren. Aber die Massenproteste im Juni 2009 und die Entstehung einer neuen Bewegung, die sich der Grüne Weg nennt, zeigten die tiefe Unzufriedenheit der jungen Generation mit dem System in Teheran. Und mittlerweile ist es auch im konservativen Lager unruhig geworden.

Ahmadinedschad und Khamenei; Foto: &copy Khamenei
Neu entfachter Machtkampf zwischen neokonservativen Revolutionären und islamistischen Klerikern: Irans Präsident Ahmadinedschad und Ali Khamenei, Revolutionsführer und geistliches Oberhaupt der Islamischen Republik

​​Dass es zwischen dem Präsidenten und dem geistlichen Führer Ali Khamenei zu Meinungsverschiedenheiten, gar zu offenen Machtstreitigkeiten kommen könnte, hatte niemand geahnt, und noch weniger, dass sich um Ahmadinedschad antiklerikale Kräfte scharen würden, die einen islamischen Staat mit einer nationalistischen Ideologie, notfalls ohne Geistlichkeit, anstreben. Der klassische Rahmen des islamischen Systems scheint die neokonservativen Revolutionäre nicht mehr anzusprechen.

Wer hätte etwa gedacht, dass Ahmadinedschad die strikten Verhüllungsvorschriften für Frauen je in Frage stellen würde? "Frauen dürfen auf den Straßen nicht von der Sittenpolizei belästigt werden", forderte er; außerdem "sollte es Frauen auch erlaubt werden, in Fußballstadien zu gehen".

Solche Äußerungen werden von den Mullahs als Einmischung in religiöse Angelegenheiten gewertet und damit als Angriff auf ihre Vormachtstellung. Denn in derartigen Konfrontationen geht es letztlich ums Prinzip der vilayat-e faqih, der "Herrschaft des religiösen Rechtsgelehrten", die mehrheitlich nicht mehr gewollt ist, aber auf der das System des iranischen Gottesstaats beruht.

Die Wurzel solcher Konflikte geht auf die Anfänge der Islamischen Republik zurück. Damals stand die progressive Organisation der Mudschahedin der islamischen Revolution, die in den 1990er Jahren zu den gemäßigten Reformisten wechselten, den konservativ orientierten Pragmatikern und Hardlinern gegenüber, zu denen auch die Islamisch-Republikanische Partei zählte.

Irans Grüne Bewegung; Foto: AP
Demokratischer Aufbruch in der Sackgasse? Der "Arabische Frühling" hat der "Grünen Bewegung" Irans keinen neuen Impuls gegeben. Gegenwärtig scheint die einstige Dynamik der Proteste aus dem Jahr 2009 erloschen.

​​Diese löste sich infolge innerer Machtkämpfe auf, aber die ideologischen und machtpolitischen Divergenzen blieben weiterhin bestehen. Seither bildeten sich verschiedene Fraktionen und Netzwerke, die heute politisch und ideologisch im Rahmen des Systems funktionieren.

Die eine Seite, vom relativ pragmatischen bis zum relativ gemäßigten und reformistischen Flügel, wird unter anderem von der Partei der "Diener des Wiederaufbaus" um Hashemi Rafsandschani, der Partei des nationalen Vertrauens um Mehdi Karrubi, dem "Grünen Weg" um Mir Hossein Mussavi und der Partizipationsfront des islamischen Iran um Mohammed Khatami vertreten.

Auf der anderen Seite befinden sich die neokonservativen bis radikal-revolutionären Hardliner. Dazu gehören die Anhänger, die sich um die geistliche Führung scharen, und diverse islamische Organisationen; sie propagieren die Ideale der islamischen Revolution und unterstützen mehrheitlich die Präsidentschaft Ahmadinedschads. Auch innerhalb der Geistlichkeit stehen Fronten einander gegenüber, die für die eine oder andere Seite Partei ergreifen.

Fehlende Alternative

Tatsache bleibt, dass sowohl die politische Landschaft als auch die religiösen Netzwerke in Iran von inhomogenen Kräften dominiert werden. Das ist einer der Gründe dafür, dass der "Grüne Weg" nicht alle oppositionellen Gruppierungen vereinigen und deshalb auch keine breite Zustimmung im Volk finden konnte. Ein weiterer Grund ist, dass sich die Grüne Bewegung selbst in einem Prozess befindet. Darauf deutet vor allem der Mangel an intellektuellen Konzepten und klaren politischen Zielsetzungen hin.

Hinzu kommt, dass die religiöse Orientierung der Grünen Bewegung die säkulare Opposition und die gebildete Bevölkerung nicht anspricht. Dennoch darf man eines nicht ignorieren: Diese neue Bewegung zeigt die subversive Kraft einer neuen Kulturnation, die elegant, kultiviert und zivilgesellschaftlich agiert.

Die iranische Bevölkerung steht jedoch unter starkem Druck. Sie hat mit den durch Inflation, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftssanktionen verursachten alltäglichen Sorgen zu kämpfen. Deshalb wird die breite Masse zum Spielball unterschiedlicher politischer Kräfte, die ihr bei Wahlen falsche Hoffnungen machen und einfache, fadenscheinige Lösungen anbieten.

Ahmadinedschad; Foto: AP
Im Fahrwasser der Ideologie Mesbah Yazdis und Ahmadinedschads: Seit Ahmadinedschads Sieg sprechen ihre paramilitärischen Anhänger von einer "eigenen Regierung" und proklamieren die "vollständige Unabhängigkeit" Irans von westlichen Mächten als ihr heiliges Ziel.

​​Es fehlen dem Volk eine klare Einsicht ins politische Geschehen und zudem eine reelle Alternative, die das Vertrauen der Bürger hätte und in der Lage wäre, Gegenentwürfe zur jetzigen Staatsform und Lösungsansätze für die Probleme des Landes aufzuzeigen.

Das erklärt auch, warum die Mehrheit der Bevölkerung politisch kaum aktiv ist. Die Mitte des Volkes ist still, und so entsteht der Eindruck, dass eine Mehrheit nach wie vor hinter dem System in Iran stehe. Das ist den konservativen und radikal-revolutionären Hardlinern durchaus bewusst und erklärt auch ihre gegenwärtigen Machtkämpfe.

Einstweilen geht es im Iran vorab um die Positionierung innerhalb des bestehenden Systems. Für die Macht des Klerus stellen nicht nur die Reformer eine Gefahr dar, sondern vor allem ihre neuen konservativ-religiösen Gegenkräfte, die nun versuchen, durch nationalistische Parolen und religiösen Populismus das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen.

Seit Ahmadinedschads Sieg sprechen ihre paramilitärischen Anhänger von einer "eigenen Regierung" und proklamieren die "vollständige Unabhängigkeit" Irans von westlichen Mächten als ihr heiliges Ziel.

Die Betonung des "Eigenen" ist dabei keineswegs nur ein nationalistischer Kitt, um sich vom Ausland abzugrenzen. Man schließt damit auch alle religiösen Gruppierungen aus, die nicht den eigenen Reihen angehören, auch wenn sie weiterhin zur Doktrin der Islamischen Republik stehen.

Mir Hossein Mussawi; Foto: AP
Mir Hossein Mussavi wäre vielleicht sogar die beste Option für eine solche Stabilisierung des Systems gewesen, wenn er 2009 als Präsident gewählt worden wäre. Einen Radikaleren als Ahmadinedschad kann sich die Herrschaft des Klerus nicht mehr leisten, schreibt Hajatpour.

​​Im Grunde geht es dabei jedoch nicht um den Islam, sondern um eine Art "Kulturkampf" innerhalb des Kreises der religiösen Patrioten. Hier wird entschieden, wie Iran sich politisch und kulturell zum Eigenen und zum Westen positionieren wird, ob nationalistische bzw. islamisch-nationalistische Strömungen, die etablierte Klerokratie oder die neokonservativen Revolutionäre den Ton angeben werden. Alternativen sucht man nur im bestehenden Rahmen, um letztlich das System zu erhalten.

Bestenfalls eine Scheinlösung?

Mir Hossein Mussavi wäre vielleicht sogar die beste Option für eine solche Stabilisierung des Systems gewesen, wenn er 2009 als Präsident gewählt worden wäre. Einen Radikaleren als Ahmadinedschad kann sich die Herrschaft des Klerus nicht mehr leisten. So wäre für das Regime in Teheran ein Präsident mit einer etwas gemäßigteren Einstellung besser. Einer oder sogar eine, der oder die sich für die Alltagsprobleme des Volkes interessiert und stark genug ist, das Volk für acht Jahre ruhigzustellen.

Es muss jemand sein, der das "Feuer unter der Asche" zum Erlöschen bringt. Warum nicht eine Präsidentin aus dem pragmatischen Flügel? Das wäre ja revolutionär und sogar etwas Neues.

Um einen echten Wandel in Teheran herbeizuführen, wäre dagegen viel mehr zivilgesellschaftliche Courage vonnöten. Einen Wandel, der nicht nur auf religiösen oder nationalistischen Parolen fußt, sondern der vielmehr das Selbstbewusstsein der Nation neu definiert; einen Wandel, der auf politischer Ebene eine vernünftige Ausgewogenheit bringt und die Nation vor der Gefahr einer Spaltung bewahrt, indem er ihre iranische Identität und ihre religiöse Tradition in Einklang mit modernen Lebensformen bringt.

Reza Hajatpour

© Neue Züricher Zeitung 2011

Reza Hajatpour lehrt Iranistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Erinnerungen an die islamische Revolution, die er als junger Religionsstudent miterlebte, hat er in "Der brennende Geschmack der Freiheit" festgehalten.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de