Der Feind an der Front: Israelis und Libanesen Auge in Auge

Zehntausende Geschosse im Libanon bedrohen Israel. Iranische Truppen stehen vor den Golanhöhen. Die Gefahr eines Krieges trifft niemanden mehr als die Menschen in der Region. Zwei Schicksale von der Grenze. Eine Reportage von Benno Schwinghammer, Sara Lemel und Weedah Hamzah

Das Mittelmeer glitzert verlockend in der warmen Mittagssonne. «Es ist wie an der Riviera», schwärmt die 38-jährige Roni Israeli, während sie von Rosch Hanikra am grünen Berghang auf die See hinunterblickt. Doch die Idylle der lieblichen Landschaft ist trügerisch: Über den Berg fliegt dröhnend ein weißer Hubschrauber der UN-Beobachtertruppe, vor der Küste patrouilliert gut sichtbar ein israelisches Militärboot. Eine deutliche Erinnerung daran, dass der seit Jahren schwelende Konflikt zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah-Miliz jederzeit wieder ausbrechen kann.

Die Israelin wohnt mit ihrer Familie in einem Haus, das direkt am Grenzzaun zum Libanon liegt. Auf der anderen Seite, etwas weiter im Osten, lebt der 80-jährige Hussein Ajub. Sein gesamtes Leben wurde durch die Feindschaft zwischen Israel und dem Nachbarland Libanon geprägt. Die Grenze verbindet die Schicksale beider Menschen, die Front trennt ihre Welten.

Wie hoch das Eskalationspotenzial heute ist, zeigt eine Analyse der Denkfabrik Washington Institute. «Der nächste Krieg an Israels Nordfront, ob er im Libanon oder in Syrien startet, wird nicht einfach nur eine Wiederholung des Libanonkrieges 2006 in größerer und verheerenderer Form», heißt es darin. Durch die Vielzahl von Akteuren sei vielmehr ein «regionaler Flächenbrand» zu befürchten.

Dabei gehe es nicht nur um die Hisbollah, die 100.000 Raketen Richtung Israel schießen könne. Es betreffe auch den Iran, Syrien, die Palästinenser, schließlich auch den syrischen Verbündeten Russland und die Golfstaaten, die den Einfluss ihres Erzfeindes Iran mit allen Mitteln eindämmen wollten.

Im Nordosten ist die syrische Armee nach dem Sieg über die Rebellen bis an die Golanhöhen vorgerückt. Einer der wichtigsten Verbündeten der Assad-Regierung ist der Iran, der mit Tausenden Kämpfern im Land ist. Teheran finanziert weitere Truppen und vor allem die mächtige Hisbollah. Gleich vor Israels Haustür hat es ein großes Militärpotenzial aufgebaut. So bedroht wie in diesen Tagen hat sich der jüdische Staat seit Jahren nicht gefühlt.

Im Südlibanon steht der ergraute Ajub auf dem Dorfplatz in Marun al-Ras, in seinem Rücken die örtliche Moschee. Dahinter, kaum 2.000 Meter weg, Wachtürme und Befestigungsanlagen. Lange bevor sich die Situation so zuspitzte, erinnert sich Ajub, spielte er an der Grenze als Junge mit seinen Freunden Fußball. 1964 heiratete er eine Frau aus der Nachbarstadt Bint Dschabil und ließ sich mit ihr nieder. Das Leben des Mannes in Marun al-Ras schien vorgezeichnet. Bis das Jahr 1982 und der erste Libanonkrieg kamen.

Es war mitten am Tag und Ajub auf dem Dorfplatz, als die Spannungen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO im Libanon eskalierten und Panik losbrach. Sie kamen. Er nahm seine Frau und sprang in den Wagen, die Panzer sah er im Rückspiegel, vor ihm schlugen Geschosse in die Straße. «Als wir in Beirut ankamen, dachten wir, wir würden nie wieder nach Hause zurückkehren.»

Die Israelin Roni, deren drittes Kind gerade ein paar Wochen alt ist, war 1982 selbst noch ein Kleinkind. Zwei Jungen und ein Mädchen hat sie heute - eine neue Generation, die mit dem Konflikt groß wird.

«Ich habe sehr viele Kindheitserinnerungen an Zeiten im Bunker – weil hier immer die Katjuschas geflogen sind», erzählt die freundliche, ruhige Frau mit den langen, braunen Haaren. Neben zwei Kriegen startete Israel immer wieder Militäroperationen in dem feindlichen Nachbarland. Neben jedem Kindergarten und Kinderhaus im Kibbuz (Gemeinschaftssiedlung) Rosch Hanikra gibt es einen Betontunnel, der in einen Bunker führt. «Ich hatte als Kind schreckliche Angst vor diesen Tunneln.»

Für Hussein Ajub folgten auf den ersten Libanonkrieg 18 Jahre der israelischen Besatzung und der Trauer. Er arbeitete als Fahrer für die Behörden und steckte immerzu im Beiruter Verkehrschaos fest. Bis zum Jahr 2000, als Israel seinen endgültigen Abzug aus der sogenannten Sicherheitszone im Süden des Libanons bekanntgab und Ajub am Fernseher klebte. Sofort entscheidet er sich, zurückzukehren.

«Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben, all die Erinnerungen kamen zurück», sagt er. Sein Haus in Marun al-Ras musste Ajub neu bauen, doch der Keller sollte ihm später das Leben retten. Denn 2006 eskalierte die Situation erneut, wieder marschierte Israel nach der Tötung und Entführung mehrerer Soldaten durch die Hisbollah ein.

Raketen und Bomben regneten nieder. 15 Tage des einmonatigen Krieges verbrachten Ajub und seine Frau im Untergeschoss und ernährten sich von Konserven. Der Bürgermeister des benachbarten Bint Dschabil, Afif Bassi, kann sich noch genau daran erinnern: «Bint Dschabil war wie im Zweiten Weltkrieg. Niemand hätte gedacht, dass diese Stadt wieder auferstehen würde.»

Auch in Roni Israelis Kibbuz schlugen 2006 Raketen ein. Das zentrale Rambam-Krankenhaus in Haifa war ebenfalls unter ständigem Beschuss. Vize-Klinikchef Michael Halberthal kümmerte sich zu der Zeit darum, die Schwere der Verletzungen der Notaufnahmen zu beurteilen. «Es ging alles sehr schnell, innerhalb von 24, vielleicht 48 Stunden waren wir in vollem Kriegszustand», erinnert sich der 60-Jährige.

Um sich für den nächsten Krieg zu wappnen, hat Rambam inzwischen das weltweit größte unterirdische Notfallkrankenhaus gebaut. Drei Stockwerke mit einer Fläche von 65.000 Quadratmetern, für einen Preis von umgerechnet 120 Millionen Euro. Das unterste Stockwerk ist sogar komplett gegen nichtkonventionelle Waffen geschützt.

«Es ist sehr wahrscheinlich, dass es hier wieder zum Krieg kommen wird», sagt Halberthal. «Und im Vergleich zu damals sind die Raketen der Hisbollah heute viel präziser.» Das Militär rechne damit, dass der nächste Konflikt mit der Hisbollah etwa 35 Tage dauern werde. «Das Szenario, auf das ich mich vorbereiten muss, ist, dass hier dann alle vier Minuten eine Rakete einschlägt.» Im Kriegsfall kann das «Bunker-Krankenhaus», das allein über 2.000 Betten verfügt, für den gesamten Norden Israels die Behandlung übernehmen.

Trotz der Dauerbedrohung ist Roni Israeli, die lange im Ausland gelebt hat, vor zwei Jahren mit ihrer Familie in den Kibbuz zurückgekehrt. «Ich habe immer im Hinterkopf, dass dort über dem Berg der Libanon ist», sagt sie. Ihre größte Angst sei es, dass Terroristen über die Grenze kommen könnten. Denn 2002 hat sie hautnah einen Anschlag miterlebt, bei dem sechs Israelis von libanesischen Attentätern getötet wurden.

«Ich habe oft darüber nachgedacht, dass es damals auch mich hätte treffen können», sagt die Frau. Sie denke aber auch sehr oft daran, wie sich die Menschen auf der anderen Seite fühlen. Bei einer Reise auf den Fidschi-Inseln habe sie vor einigen Jahren zufällig einen Libanesen in ihrem Alter getroffen.

«Er ist hier ganz in der Nähe aufgewachsen, auch direkt an der Grenze.» Sie hätten über ihre Kriegserlebnisse gesprochen, «was bei ihnen passiert ist und was bei uns passiert ist». Beide seien sehr emotional geworden und hätten sogar gemeinsam geweint. «Wir hatten das seltsame Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft.»

Der Streifen, der die Schicksale verbindet, liegt heute ruhig in der Mittagssonne. Auf der einen Seite braun, ein paar Büsche und Geröll. Dann ein Zaun, eine Straße und ein Wall mit Bäumen. Dahinter, in Israel, ist es grün, Felder ziehen sich die Hügel hinauf. «Wir werden in Jerusalem beten», steht weithin lesbar auf einer weißen Flagge in einem Garten auf libanesischer Seite. Der Iran demonstriert hier in Sichtweite der Grenze seine Macht.

Roni Israeli sieht den Konflikt mit den Nachbarn im Norden allerdings als eine traurige Energieverschwendung. «Wenn hier Frieden herrschte, was für ein schönes Leben könnten wir dann haben - beide Seiten!», ruft sie. «Mein Traum ist, hier einfach über den Berg zu wandern und einen Ausflug auf der anderen Seite zu machen. Wir dürfen einfach die Hoffnung nicht aufgeben.»

Hussein Ajub ist zumindest zuversichtlich, bis zu seinem letzten Tag in Marun al-Ras bleiben zu können: «Jetzt fühle ich mich froh, dass ich in meinem Heimatort sterben kann.» Er wolle auch hier begraben werden. (dpa)