Am Normalbürger vorbei

Auch wenn die Aufstände in Tunesien und Ägypten zunächst noch einen betont säkularen und ideologiefreien Charakter hatten, waren es in beiden Ländern dann doch wieder die Islamisten, die bei den Parlamentswahlen siegten. Was läuft falsch bei Liberalen und Säkularisten? Eine Analyse von Amira Galal

Von Amira Galal

Jahrelang wurde in wissenschaftlichen Untersuchungen und bei Symposien festgestellt, dass der arabische Säkularismus gescheitert sei. Auch wenn dies von kaum jemandem in Frage gestellt wurde, existierte unter den arabischen Liberalen und Säkularen dennoch die vage Hoffnung, dass sich all die Experten irrten und eines Tages das "goldene Zeitalter der liberalen Werte und säkularen Ideen" anbrechen werde.

Der Liberalismus in der arabischen Welt hatte seine Zeit und erlebte seinen Niedergang mit den erfolglosen ideologischen Experimenten in Ägypten, Syrien und dem Irak. Der Verlauf des Arabischen Frühlings brachte diese Einsicht einmal mehr zutage, und dies nicht nur den Akademikern, sondern auch für den Laien.

Dabei gingen die Aufstände in Ägypten und Tunesien vom letzten Jahr keineswegs von Islamisten aus, sondern waren explizit säkularen Charakters und frei von jeder Ideologie.

Maya Jribi von der PDP während einer Pressekonferenz; Foto: DW
Denkzettel für Tunesiens Liberale: Die PDP unter ihrer Vorsitzenden Maya Jribi verfügt nach den Wahlen lediglich über 16 der 217 Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung.

​​Bei vielen Liberalen weckte dies Hoffnungen, dass es womöglich zu einer Renaissance ihrer Wertvorstellungen kommen könnte. Diese Träume zerplatzten jedoch als die Islamisten in beiden Ländern die Wahlen gewinnen konnten.

Kluft zwischen säkularen Eliten und arabischen Massen

Der Nahost-Experte Karl Sharro beklagt sich über das Ausbleiben jeglicher Selbstkritik auf Seiten der Säkularisten und kritisiert deren komplette Unfähigkeit, Anschluss an die Massen zu gewinnen: "Diese Kluft zwischen den säkularen Eliten und den arabischen Massen ist sehr gut an ihrer herablassenden Haltung ersichtlich. Immer wieder sprechen sie von 'Bildung' und vom 'Schärfen des Bewusstseins' und meinen damit besondere Techniken, die sie westlichen liberalen Demokratien entnommen haben."

Sharro verweist ferner auf unwirksame Methoden, um Unterstützung aus der Bevölkerung zu erhalten: "Statt die tatsächlichen politischen und ökonomischen Probleme mit ehrgeizigen Programmen zu begegnen, um eine breite Unterstützung zu gewinnen, schreckten sie das Wahlvolk mit oberflächlichen Initiativen ab, die den realen Alltag der Menschen kaum berührten. So vergeudeten sie viel zu viel Zeit und Energie in irrelevante Initiativen – etwa möglichst oft bei Twitter gepostet zu werden. Oder aber sie widmeten sich geistlosen Öffentlichkeitsauftritten wie den aus westlichen Hauptstädten bekannten Flashmobs, so als wäre das schon der Höhepunkt der politischen Auseinandersetzung. Es scheint fast so, als hätten sie es eher darauf angelegt, in den westlichen Medien einen Preis für den Status als am meisten verfolgte Opfer zu gewinnen, anstatt sich eine echte Wählerbasis im eigenen Land zu schaffen."

Sprecher der islamistischen Muslimbruderschaft, Saad Al-Katatny; Foto: dpa
Näher am Volk: "Während die Liberalen in den letzten 30 Jahre sich immer weiter zersplitterten, sich mit der Auseinandersetzung um kleinste Details aufhielten und sich damit von jeder realistischen Politik entfernten, begannen die Islamisten kontinuierlich Anhänger anzuwerben und sich als unverzichtbarer Pfeiler der Gesellschaft zu profilieren", schreibt Galal.

​​Unter westlichen und arabischen Liberalen existiert eine notorische Angst davor, politische Trends den harten politischen Realitäten auszusetzen, so als ob eine Diskussion über das Thema "soziale Klasse" ihre Existenz bedrohen würde. Die Armen in Ägypten setzen Liberalismus deshalb auch schnell mit "sozialen Eliten" oder auch mit dem "Westen" gleich. Dahinter steckt der Gedanke, dass sie sich in den Werten der meist reichen, Englisch sprechenden oberen Mittelschicht noch nicht einmal ansatzweise repräsentiert sehen und es sich dabei bloß um die selbstgefälligen Spielereien derer handelt, die sich um ihr Überleben keine Sorgen machen müssen.

Dies ist von besonderer Bedeutung in einem Land, in dem fast 50 Prozent der Menschen auf oder unterhalb der Armutsgrenze leben, in dem es seit Jahrhunderten eine große Kluft zwischen "Bauern und Herrn" gibt und in dem politischer und kultureller Imperialismus so tief in der Geschichte verwurzelt ist.

Das Scheitern ElBaradeis

Dieses Misstrauen gegenüber den im Westen ausgebildeten, Englisch sprechenden Oppositionellen und der wachsende Konservativismus im Land spiegeln sich besonders in den ziemlich aufgebauschten "Skandalen" um Mohammed ElBaradei wider.

Die Kampagne ElBaradeis litt von Beginn an unter seiner Unentschlossenheit und seinem Unwillen, die Rolle als Führer der Revolutionäre vom Tahrir-Platz zu übernehmen. Trotz der Tatsache, dass sein Plan für die Zeit nach der Revolution wohl der praktikabelste war, beeinträchtigten sein fehlendes Charisma und sein Abstand zum "Normalbürger" seine Kampagne und veranlassten ihn letztendlich dazu, aus dem Rennen um die Präsidentschaft auszusteigen.

Mohammed ElBaradei; Foto: dpa
Fehlender Nimbus des "Tahrir-Revolutionärs": Mohammed ElBaradeis fehlendes Charisma und sein Abstand zum "Normalbürger" beeinträchtigten seine Kampagne gewaltig und veranlassten ihn letztendlich dazu, aus dem Rennen um die Präsidentschaft auszusteigen.

​​Obwohl es bereits vor zehn Jahren veröffentlicht wurde, wird in Carrie Wickhams Buch "Mobilizing Islam: Religion, Activism and Political Change in Egypt" bereits sehr deutlich geschildert, welche ungeheure Spannung zwischen Arm und Reich in Ägypten existiert.

Wickham erklärt in ihrem Buch, wie die islamistische Politik aus einer Notwendigkeit heraus entstand und als Reaktion darauf, dass das Armutsproblem von den sozialen Eliten zu lange einfach beiseite geschoben wurde. Als es dann dem säkularen Autoritarismus nicht mehr gelang, für wirtschaftliches Wachstum zu sorgen, für gesellschaftliche Gerechtigkeit oder politische Rechte, wandten sich viele den islamistischen Bewegungen zu – eher als Ausdruck einer Haltung gegen den Status quo denn als Stimme für den Islamismus.

Die wachsende Präsenz der islamistischen Oppositionsbewegungen hat aber den liberalen Säkularisten nicht jede Chance genommen, sich neu zu erfinden und sich eine solide Basis unter den "Tahrir-Revolutionären" und innerhalb der ägyptischen Bevölkerung insgesamt zu schaffen. Während die Liberalen in den letzten 30 Jahre sich immer weiter zersplitterten, sich mit der Auseinandersetzung um kleinste Details aufhielten und sich damit von jeder realistischen Politik entfernten, begannen die Islamisten kontinuierlich Anhänger anzuwerben und sich als unverzichtbarer Pfeiler der Gesellschaft zu profilieren.

Der Fokus der Liberalen, der immer auf den liberalen Autoren, Künstlern und Journalisten (z.B. Hamdeen Sabahi or Bouthaina Kamel) lag, stand damit in krassem Gegensatz zur Basis der Muslimbruderschaft, deren Anhängerschaft sich aus einem viel breiterem Spektrum der Gesellschaft zusammensetzt und deren Fokus sich traditionell eher auf die Armen und die Außenseiter der Gesellschaft richtete. So sei an die praktische Hilfe für diese Menschen erinnert, mit der die Muslimbruderschaft eine von der Regierung geschaffene Lücke füllte. Sie offerierten Gesundheitsversorgung, Schulen und Suppenküchen dort, wo man sie am meisten brauchte.

Ein Ereignis der jüngeren Geschichte, das sich der in ihrer Mehrheit jungen Bevölkerung Ägyptens besonders einbrannte, ist die gewaltige Zerstörung durch das Erdbeben, von dem das Land im Jahr 1992 getroffen wurde und bei dem insbesondere die ärmeren Stadtteilen Kairos fast komplett zerstört wurden. Der Muslimbruderschaft gelang es, binnen kürzester Zeit für medizinische Hilfe und Unterkünfte zu sorgen, während die Regierung mehrere Tage brauchte, um darauf zu reagieren.

Die Institutionalisierung der islamistischen Bewegungen sorgte für einen weiteren Schub der Unterstützung für die Bruderschaft. So konnte eine Mitgliedschaft etwa bei der Suche nach einem Job gute Dienste leisten und erleichterte es, an wasta (Beziehungen oder Einfluss) zu gelangen. Solche durch Netzwerke geschaffenen Chancen und soziale Mobilitäten für Angehörige aller gesellschaftlichen Schichten wurden von den liberalen Eliten noch nicht einmal ansatzweise diskutiert.

Am Scheideweg

Wenn den liberalen Säkularisten tatsächlich daran gelegen ist, in der ägyptischen Politik wieder Fuß zu fassen, sollten sie zunächst bereit sein, Kritik anzunehmen und es vermeiden, auf die fehlende Bildung der Wähler zu verweisen oder über die Ignoranz der unteren Schichten zu klagen. Sie müssen sich aus dem Scheinwerferlicht der internationalen Medien begeben und sich darauf konzentrieren, praktische und realistische Politikentwürfe zu schaffen, die dann auch voll umgesetzt werden.

Die Liberalen Ägyptens müssen das Vertrauen der Ägypter wieder gewinnen und beweisen, dass sie sich für die alltäglichen Probleme der breiten Bevölkerung nicht nur interessieren, sondern dass sie auch ernsthaft daran arbeiten, diese zu lösen und dabei auch greifbare Ergebnisse vorweisen.

Ägypten befindet sich nun im 21. Jahrhundert und es wird für die Reichen immer schwieriger, die Augen für die Nöte der Armen zu verschließen, genauso wie es den Armen, angesichts der Möglichkeiten durch Massenkommunikation und den Massenmedien, unmöglich geworden ist, die gewaltige soziale Kluft, die im Land existiert, zu übersehen.

Ägyptens Liberale müssen beweisen, dass auch sie Ägypter sind – und das nicht durch bloße Rhetorik, sondern indem sie den weniger Glücklichen die Hand reichen und indem sie das Wohl Landes insgesamt zu ihrer vordringlichsten Aufgabe machen.

Amira Galal

© Qantara.de 2012

Aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Aingeal Flanagan & Arian Fariborz/Qantara.de