Missbrauchter Glaube

Auch wenn die verbotene Praxis der Genitalverstümmelung von Frauen nichts mit dem Islam zu tun hat, sind ägyptische Islamisten entschlossen, sie wieder zu legalisieren – mit fatalen Folgen für Ägyptens Frauen. Von Margot Badran

Von Margot Badran

Am 20. Dezember haben die Vereinten Nationen eine Resolution gegen die Praxis der Genitalverstümmelung von Frauen (FGM) verabschiedet. Zwei Tage später fand ein landesweites Referendum für eine neue Verfassung statt. Doch was bedeuten Resolution und Verfassung für die ägyptischen Frauen tatsächlich?

Die Vereinten Nationen betrachten ihre Resolution als einen "signifikanten Meilenstein", um dem lokalen Brauch der FGM bei jungen Mädchen weltweit ein Ende zu setzen. Sie ist das Ergebnis nachhaltiger internationaler Bemühungen – auch mit entscheidender ägyptischer Unterstützung.

Die Resolution stellt ein weiteres Instrument für all jene Regierungen dar, die Genitalverstümmelung von Frauen und die daraus entstehenden Verfehlungen in Bezug auf die körperliche Gesundheit und persönliche Unversehrtheit der Frauen zu beseitigen.

Wenn Hermeneutik zur Politik wird

Logo einer Kampagne gegen FGM
Genitalbeschneidung bei Frauen als ererbte Unsitte - ohne jede Grundlage im Koran: Kampagne gegen Genitalverstümmelung (FGM)

​​Die neue ägyptische Verfassung hingegen, eine abgewandelte und erweiterte Form der Verfassung von 1971, sieht vor, dass alle Gesetze von der Scharia abgeleitet werden. Sie ermächtigt den Staat und seine verschiedenen Organe, selbst festzulegen, wie dieser Grundsatz zu verstehen ist. Doch mit Koraninterpretationen ("Tafsir") in den Händen der Regierung, wird Hermeneutik zur Politik.

Wie wird es den Frauen ergehen, wenn die Islamisten nun den Großteil der politischen Macht auf sich vereinen? Noch in der (inzwischen aufgelösten) Nationalen Versammlung riefen Islamisten nach Wiedereinführung der FGM und der Aufhebung der Altersbeschränkung bei Heirat, was momentan noch verboten ist.

Kinder stünden somit länger unter der Obhut der Männer, und Frauen wären in ihren Möglichkeiten, sich scheiden zu lassen, beschränkt. Die Forderung der Islamisten korrespondiert also mit einer Festigung der Macht und stärkeren Kontrolle der Männer über Frauen und Kinder für die Männer, was mit Hilfe der Religion legitimiert werden soll.

Keine religiöse Vorschrift

Schon seit Jahrtausenden existiert in Ägypten und in anderen Ländern des Nils die kulturelle Praxis der genitalen Verstümmelung von Mädchen. Es wird praktiziert, um das sexuelle Verlangen von Frauen auszuschalten und die Reinheit der Frau – untrennbar verbunden mit der Ehre des Mannes und der Familie – zu bewahren. Obwohl diese Praxis von keiner Religion als zwingend vorgeschrieben wird, gibt es dennoch Versuche, FGM im Namen der Religion sowohl muslimischen als auch christlichen Mädchen aufzuzwingen.

Die Praxis der Genitalverstümmelung von Frauen ist keine islamische Vorschrift – sie wird weder im Koran noch in der islamischen Rechtssprechung ("Fiqh") erwähnt. Und doch wurde der Islam durchgehend dafür missbraucht, der körperlichen Unversehrtheit und dem Wohlergehen von Mädchen zu schaden. Bei diesem Gedanken wird es allen kalt den Rücken hinunterlaufen, die den Islam als eine Religion ansehen, die sich für moralische und körperliche Unversehrtheit aller Menschen ausspricht – und nicht als eine, die körperliche Verstümmelung und Leiden fördert.

Ernsthafte Bestrebungen, Genitalverstümmelung von Mädchen zu stoppen, finden sich im 20. Jahrhundert, als sie in Ägypten 1959 durch die Regierung Gamal Abdel Nassers verboten wurde. Auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo im Jahr 1994 rückte man im nationalen und internationalen Maßstab zusammen, um die Kampagne gegen Genitalverstümmelung zu intensivieren.

Im Vorfeld der Konferenz riefen die bekannte soziale Reformerin Azisa Hussain und Marie Assad eine Arbeitsgruppe ins Leben, die Gruppen aus verschiedensten Bereichen zusammenführte. Die stark vernetzte Arbeitsgruppe unterstützte Aktivitäten, die bis in die ländlichen Gebiete reichten und koordinierte lokale Initiativen im Kampf gegen die Genitalverstümmelung.

"Weibliche Beschneidung" als unislamische Praxis

Ägyptens Scheikh Mohammed al-Tantawi; Foto: AP
Im Jahr 2006 hatte der Großmufti der Al-Azhar, Mohammed al-Tantawi, erklärt, Genitalverstümmelung verstoße gegen die höchsten Werte des Islam und sei deshalb ein strafbares Verbrechen.

​​Die öffentlichkeitswirksame Wirkung der FGM-Kampagne rief den Widerstand von einigen islamischen Gelehrten hervor.

Gad al-Haq, der damalige Scheich der Al-Azhar, erklärte, dass "weibliche Beschneidung" (wie er sowie andere Gelehrte die genitale Verstümmelung von Mädchen bezeichnete) ein religiöses Erfordernis sei. Der Mufti, Muhammad al-Tantawi, gab eine Fatwa heraus, die "weibliche Beschneidung" als nicht islamisch bezeichnete.

Der islamistische Anwalt Salim Al-'Awwa schrieb in der Tageszeitung "Al-Shaab", weibliche Beschneidung werde weder verlangt, noch gutgeheißen. Und Scheich Farid al-Wassil (der 1996 Mufti wurde), schrieb in der Zeitung "Al-Akhbar": "Es darf keine Abweichung von den früheren Fatwas zur weiblichen Beschneidung geben, die vom 'Dar al-Fatah' herausgegeben wurden und bestätigen, dass es im Bereich der islamischen Scharia weder Texte gibt, die weibliche Beschneidung befehlen, noch Texte, die sie verbieten."

In der turbulenten politischen Zeit, die auf die Konferenz in Kairo folgte, wurde das Genitalverstümmelungsverbot in den Krankenhäusern des Landes aufgehoben. Als das Verbot 1996 wieder eingeführt wurde, legten Scheich Yusif al-Badri, ein Mitglied des Hohen Rats für Islamische Angelegenheiten und die Gynäkologin Munir Fawzi Klagen gegen das neue Verbot ein. Sie behaupteten, das Verbot würde die Verfassung von 1971 verletzen, welche die Scharia als einzige Gesetzesquelle in Ägypten vorsieht.

Mit dem jüngsten politischen Erfolgen der Islamisten erfährt die Genitalverstümmelung von Frauen neuerlichen Rückenwind. Im vergangen Jahr konnte man wieder die Forderungen islamistischer Parlamentarier nach Wiedereinführung der FGM vernehmen.

Im Vorfeld der letzten Runde bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Frühling sind einige Mitglieder der Muslimbruder-Partei "Freiheit und Gerechtigkeit" durch die Dörfer gezogen, wo sie FGM-Operationen für wenig Geld angeboten haben. Sie wurden beispielsweise in der Provinz Minya gesehen. Doch als ihre Dienste die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen, verschwanden sie rasch und leugneten, an der Förderung von FGM beteiligt zu sein – wohl wissend, dass es sich um einen kriminellen Akt handelt.

Doch wie steht es um die Genitalverstümmelung von Frauen im Spannungsfeld der jüngst verabschiedeten UN-Resolution und der neuen ägyptischen Verfassung? Die weltweite Begeisterung, mit der man die Resolution aufgenommen hat, wird durch die Stimmen für die neue Verfassung im politischen Kontext, in dem sie geschrieben und angenommen wurde, auf lokaler Ebene erstickt.

Wird es mit der neuen UN-Resolution eine neue Welle der Empörung geben, weil die internationale Initiative angeblich im Widerspruch zum Islam steht? Werden bestimmte Artikel der Verfassung von einigen angesehenen religiösen Persönlichkeiten herangezogen, um die Praxis der Genitalverstümmelung zu rechtfertigen – und womöglich zu legalisieren?
Was ist, wenn die Gelehrten bei ihrer bisherigen Meinung bleiben, dass die Genitalverstümmelung keine islamische Praxis ist, die Mehrheit des islamistisch-dominierten Parlaments sich jedoch dagegen ausspricht? Und ist die Scharia nicht offen für verschiedene Lesarten, ist sie nicht eine moralische Handlungsanleitung und Inspiration für alle? Oder stellt sie vielmehr ein Instrument zur politischen Geißelung dar?

Margot Badran

Margot Badran ist Historikerin und Senior Fellow am "Alwaleed Center for Muslim-Christian Understanding" der Georgetown Universität und Senior Scholar am Woodrow Wilson International Center of Scholars.

© Qantara.de 2013

Übersetzt aus dem Englischen von Saskia Hohenberger

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de