Corona-Krise drängt im Gottesstaat Iran sogar Islam in den Hintergrund

Wenn im Iran auf einmal Wissenschaftler mehr zu sagen haben als Kleriker, dann läuft etwas falsch im Gottesstaat. Schuld daran ist die Corona-Krise. Viele Iraner wollen keine Predigten mehr, sondern nur noch Expertenaussagen. Von Farshid Motahari

Die Corona-Pandemie hat seit Ende Februar vieles im Iran auf den Kopf gestellt. Wegen der Kontaktbeschränkungen konnten die Perser nicht einmal ihr Neujahr (20. März) richtig feiern. Selbst an Beerdigungen und Trauerzeremonien darf nur noch der engste Familienkreis teilnehmen. Beachtlich ist jedoch, dass in der Islamischen Republik auch der Islam dem Corona-Virus weichen musste. Manches wäre früher einfach undenkbar gewesen.

Als erstes schlossen wegen der Ansteckungsgefahr die Moscheen – auch die große Dschamkaran Moschee in Ghom in Zentraliran. Danach wurden die für das islamische Land wichtigen Freitagsgebete, wo Woche für Woche Propaganda betrieben wurde, abgesagt.

Zum ersten Mal in der Geschichte des Irans schlossen dann sogar zwei der wichtigsten schiitischen Mausoleen in Maschad in Nordostiran und in Ghom, die jährlich von Millionen von iranischen und ausländischen Pilgern besucht werden. Auch der Schrein von Revolutionsführer Ruhollah Khomeini in Teheran ist zu. Und das alles mit Zuspruch der gesamten religiösen Elite des Landes.

Besonders auf die Schließung der beiden Mausoleen reagierten streng gläubige Muslime mit Protesten. Sie glauben nämlich, dass ein Besuch in diesen Mausoleen auch die schlimmsten Krankheiten heilen könne. Nun erfahren sie vom Klerus selbst, dass sie sich dort sogar anstecken können.

«Was nun, wird man an solchen Orten geheilt oder infiziert?», fragen junge Iraner, die den strengen islamischen Regeln grundsätzlich skeptisch gegenüber stehen, in sozialen Medien. «Wenn dann noch im iranischen Staatsfernsehen mehr Wissenschaftler zu Wort kommen als Kleriker, dann läuft im Land etwas falsch», sagt ein Politologe in Teheran, der namentlich nicht genannt werden möchte.

Der Staatssender IRIB, der von Persern wegen der vielen Programme mit langbärtigen Klerikern als «Glasfaser» verspottet wird, strahlt jetzt in den Krisenzeiten fast nur noch Diskussionsrunden mit Offiziellen des Gesundheitsministeriums sowie Viro- und Epidemiologen aus. Hauptthemen sind die Fallzahlen - bis Mittwoch waren es 4.777 Tote und rund 76.400 Infizierte - und Ratschläge aus Medizin und Hygiene, was man gegen Corona tun sollte. Für die sonst beim Sender übliche Propaganda des Klerus bleibt wenig Zeit.

Auch in der Gesellschaft hinterlässt Corona Spuren: Menschen beachten die strengen islamischen Vorschriften im Land nicht mehr so wie vor Beginn der Pandemie. Viele Frauen in der Hauptstadt Teheran tragen zwar Schutzmasken und Plastikhandschuhe, dafür aber nicht das obligatorische Kopftuch. Mehr oder weniger problemlos, weil wegen der Kontaktbeschränkungen auch die strenge Sittenpolizei nicht mehr in den Straßen patrouilliert. «Wenn es keine Kontrollen gibt, was soll ich da noch das blöde Kopftuch tragen ... Maske genügt», so die 39 Jahre alte Mastaneh aus Teheran.

Auch in den U-Bahnen ignorieren Menschen die Vorschriften. Immer mehr Männer setzen sich in die nur für Frauen bestimmten U-Bahn-Waggons, wo meistens mehr Sitzplätze frei sind. In den Zeiten vor Corona wäre das undenkbar gewesen.

Die Pandemie hat auch die Heiratspläne von vielen jungen Iranern durcheinandergebracht. Hochzeitsfeiern sind wegen der Ansteckungsgefahr verboten, alle Festhallen sind geschlossen. Traditionell und Religion gebieten es eigentlich im Iran, dass die Braut nicht nach der Trauung, sondern erst nach der Hochzeitsfeier zum Bräutigam darf. Auch sollte des Segens wegen ein Kleriker die Trauung vollziehen. Das alles geht derzeit nicht. Aber geht nicht, gibt's für manche Liebespaare nicht. Viele von ihnen trauen sich ganz einfach im Standesamt, und danach geht es ab ins gemeinsame Nest. Die traditionellen und religiösen Vorschriften ignorieren sie einfach.

«Das ist nun mal Liebe in Zeiten von Corona», sagt der 37-jährige Pedschman M. in Anspielung auf den Roman «Die Liebe in Zeiten der Cholera» von Gabriel García Márquez. Er und seine zwei Jahre jüngere Partnerin Marjam - beide Animatoren - sollten eigentlich ganz traditionell heiraten. Doch dann kam die Corona-Krise und sie mussten sich entscheiden: entweder warten und klassisch heiraten oder nur im Standesamt trauen und dann ab nach Hause.

«Da wir nicht sonderlich religiös sind, haben wir uns für die unislamische Option entschieden», sagt Pedschman. Er und Marjam haben auch schon eine gemeinsame Wohnung in einem Teheraner Vorort gemietet und wollen dort umgehend einziehen. «Im Notfall, dank Corona, auch ohne Trauschein», sagt Marjam. (dpa)