Boko Haram in Nigeria: Die vergessenen Flüchtlinge von Abuja

Als Anne Falola in New Kuchigoro aus ihrem Auto steigt, warten dort bereits einige Frauen auf sie. Die katholische Ordensschwester wird umarmt und muss viele Hände schütteln. Sie ist bekannt: Schon seit Jahresbeginn kommt sie oft mehrmals pro Woche in die Flüchtlingsunterkunft und bringt Abwechslung in den Alltag der Menschen.

Die meisten der rund 2.000 Bewohner von New Kuchigoro leben bereits seit mehr als zwei Jahren hier. Sie stammen überwiegend aus dem Bundesstaat Borno im äußersten Nordosten Nigerias und flüchteten 2014 vor der Terrormiliz Boko Haram an den Rand der Hauptstadt Abuja. Zwar bezeichnet die Regierung des Landes die Terroristen als "technisch besiegt", doch die Menschen in dem Camp gehören zu den mehr als zwei Millionen Nigerianern, die aus Sicherheitsgründen weiterhin nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen.

Das Warten ist zermürbend, auch für die 19-jährige Rahab Peter, die in der Nähe der Provinzhauptstadt Borno groß geworden ist. Sie würde gerne zur Schule gehen, einen Abschluss machen und eines Tages Medizin studieren. Sie lächelt verlegen, als sie davon erzählt. Sie weiß, dass ihr Traum vermutlich nicht wahr werden wird.

Mittlerweile gibt es in New Kuchigoro zwar eine Grundschule, doch vor allem Kinder und Jugendliche haben in den vergangenen Jahren massiv unter der Terrorgruppe gelitten. Nach Schätzungen des UN-Kinderhilfswerks Unicef sind weiterhin 1,4 Millionen Kinder auf der Flucht. Allein in der Region um den Tschadsee seien 475.000 Mädchen und Jungen von Mangelernährung bedroht, wenn nicht sofort Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen veröffentlichte zuletzt mehrfach alarmierende Zahlen.

So gravierend ist die Situation in New Kuchigoro nicht. Doch auch hier sind Infrastruktur und Versorgungslage schlecht. Immer wieder gab es Hoffnung auf Besserung, so etwa im Februar, als Bundespräsident Joachim Gauck mit seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt während einer viertägigen Nigeria-Reise den Ort besuchte. "Sie brachten Zuversicht", erinnert sich die Ordensschwester, die Schadt von ihrem Engagement berichtete. Verbessert hat sich die Lage seitdem jedoch nicht - im Gegenteil. "Es gibt weniger Essen. Die Menschen sind verzweifelter, die Situation ist angespannter." Zwar sind zahlreiche internationale Organisationen im Land tätig, doch das Interesse konzentriert sich auf Vertriebene in Borno.

Für alle anderen gebe es keinen Plan, keine Integration, sagt Anne Falola. Sie versucht zu helfen, so gut es geht. Nahrungsmittelhilfe allein ist aus ihrer Sicht der falsche Weg. Gemeinsam mit ehrenamtlichen Helfern ist sie gerade dabei, eine Schneiderwerkstatt einzurichten. In den vergangenen Monaten haben die Frauen bereits Taschen und Portemonnaies aus Perlen hergestellt und verkauft. Rahab Peter hält eine in den Farben Pink und Orange hoch. Ihr gelingt ein Lächeln. Eine ähnliche Tasche hat sie bereits für umgerechnet knapp zehn Euro verkauft. "Damit kann ich meine Familie ein wenig unterstützen", sagt sie.

In Abuja, wo Wohnraum extrem teuer ist, ist es nahezu unmöglich, sich ohne finanzielle Mittel eine Existenz aufzubauen. Wer ungelernt ist und etwa einen Job als Wächter findet, kann von dem Gehalt kaum überleben. Die meisten Binnenvertriebenen aus dem Nordosten sind zudem Farmer und haben nie etwas anderes gelernt. Da niemand in Nigeria davon ausgegangen ist, dass die Flüchtlingskrise so lange anhalten würde, wurden Strukturen wie Schulen oder Krankenstationen vielerorts gar nicht erst geschaffen.

Mittlerweile hat die Regierung mehrfach den Wunsch geäußert, die Flüchtlinge mögen nach und nach wieder in ihre Heimatorte zurückkehren. Für Anne Falola ist das eine absurde Vorstellung. Denn es mangelt im Nordosten nicht nur an einer funktionierenden Infrastruktur und an Sicherheit: Drei Jahre lang war das Risiko viel zu hoch, um dort Felder zu bestellen. "Es gibt nicht einmal etwas zu essen", klagt die Ordensschwester. (KNA)