Avraham Burg: «Die Zwei-Staaten-Lösung stirbt vor unsren Augen»

Die Ermordung des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin vor 20 Jahren hat negative Tendenzen in der israelischen Gesellschaft befördert, meint Avraham Burg (60). Die Zwei-Staaten-Lösung sterbe heute «vor unseren Augen», sagt der Politiker, Autor und frühere Knesset-Sprecher im Interview mit Andrea Krogmann. Nur ein Trauma könne dem Land zu einem Richtungswechsel verhelfen.

Herr Burg, wo waren Sie am Abend des 4. November 1995, als Jitzhak Rabin erschossen wurde?

Avraham Burg: Ich war auf dem Platz, auf dem die Friedensdemonstration stattfand. Ich ging mit meiner Frau und meinen vier Kindern zurück zum Auto, als ein befreundetes Knesset-Mitglied zu mir kam und sagte, es seien Schüsse gefallen. Niemand wusste, was passiert war. Ich habe den Kollegen Chaim Ramon angerufen, der mir sagte: «Sie haben Rabin erschossen.» Ich war nie sehr eng mit Rabin; Chaim aber schon, und er bat mich, mit ihm ins Krankenhaus zu fahren. Ich habe den ganzen Abend mit Rabins engstem Kreis im Krankenhaus verbracht.

Wie hat diese Nacht Israel verändert?

Burg: Mit den Kugeln von Jigal Amir kam der Oslo-Prozess definitiv zu einem Ende. Mein Gefühl sagt mir aber, dass Oslo einen Selbstzerstörungsmechanismus in sich trug. Unter normalen Umständen hätte man erwartet, dass die Ideologie und das soziale Umfeld, die Rabins Mörder Jigal Amir hervorgebracht haben, nicht wieder an die Macht kommen. Heute sind sie an der Macht. Die Ermordung hat sie nicht gestoppt. Es war eine furchtbare Nacht, aber ich bin nicht sicher, dass sie neben der persönlichen und politischen Tragödie viel an der inneren Dynamik Israels verändert hat.

Dann würden Sie nicht sagen, dass mit Rabin die Hoffnung auf Frieden starb?

Burg: Es gibt keinen Zweifel, dass Rabins Amtszeit in einer Hinsicht einzigartig war: Seit 1948, besonders seit 1967, hat Israel dieselbe Haltung gegenüber den Palästinensern in Israel und in den besetzten Gebieten gezeigt: Unterdrückt sie, ignoriert sie! Rabin hat diese Haltung dramatisch verändert. Er versuchte, sie aufzuwerten und einen fairen politischen Deal mit der Palästinenserbehörde zu finden. Das war einzigartig. Was mit Rabins plötzlichem Tod zu einem Ende kam, war dieser Wandel. So wurde das alte Israel zum neuen Israel.

Wie würden Sie dieses alte neue Israel beschreiben?

Burg: Was ist der erste Gedanke der meisten Menschen, wenn sie Israel hören? Intuitiv denken die meisten an die Stereotype von 1948.

Die da wären?

Burg: Wir sind die Opfer, die Minderheit, haben das Recht auf einen eigenen Staat, all die positive Energie, die die Entstehung des Staates begleiteten. Für viele existiert dieses Israel von 1948 noch, wenn auch mit kleineren Problemen. Aber das stimmt so nicht. Das Israel von 1948 war sozialdemokratisch und säkular in seiner Ausrichtung. Das Herzstück unter Ben Gurion war Eigenstaatlichkeit. Diese Energie war aber 1977 aufgebraucht.

Dann übernahm Menachem Begin die Macht. Er ersetzte die allen Bürgern gegenüber achtsame Demokratie durch eine Herrschaft der Mehrheit, die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik durch Kapitalismus, die Eigenstaatlichkeit durch die Idee eines Großisrael. Israel heute ist sehr viel mehr ein Begin-Staat als ein Ben-Gurion-Staat: erzkapitalistisch, sehr religiös und mit bestenfalls simplem Demokratiekonzept. Ohne Zweifel ist die Ermordung Rabins Teil dieses Wandels.

Ist mit Präsident Reuven Rivlin wieder jemand im Amt, der nach einer neuen Richtung sucht?

Burg: Was wir derzeit beobachten, ist der Bankrott der Zwei-Staaten-Lösung. Die Wahl Israels ist nicht mehr die zwischen zwei Staaten oder einem, sondern zwischen einem schlechten Staat und einem guten. Also sagt Rivlin: Wenn das die Wahl ist, lasst uns die Bedingungen verbessern und einen guten Staat daraus machen. Neu ist diese Idee nicht. Jetzt auf einmal wird sie wieder aufgegriffen, weil die Idee der zwei Staaten vor unseren Augen stirbt.

Wo sehen Sie Israel in 20 Jahren?

Burg: Wir könnten uns in einer ähnlichen Konstellation wie heute wiederfinden - nicht weil sie erfreulich wäre, sondern weil alle anderen schwieriger zu erreichen sind. Es wäre etwas anderes, wenn es ein bedeutendes Trauma gäbe. Israelis reagieren sehr positiv auf Traumata: Der Holocaust kreierte letztlich den Staat Israel. Der Jom-Kippur-Krieg hat den Frieden mit Ägypten geboren. Die erste Intifada führte zu Oslo und in gewisser Weise die zweite Intifada zum Rückzug aus Gaza.

Es heißt, Sie hätten Rabin zu seinen Lebzeiten nicht gemocht, aber seit er tot sei, fehle er Ihnen. Stimmt das?

Burg: Ich habe ihn nicht sehr geschätzt, und er mich noch weniger. Aber sein tragischer Tod lässt diesen einzigartigen Moment vermissen, in dem wir der Palästinenserfrage anders begegnet sind – kein Zweifel. (KNA)