«Ausnahme Türkei» - Berlin hofft in Flüchtlingskrise auf Ankara

Mit mehr als zwei Millionen Flüchtlingen hat die Türkei besonders viel Arbeit. Im Osten läuft wieder der Kampf gegen radikale Kurden. Und dann wird bald auch noch gewählt. Grund genug für Außenminister Steinmeier, um von einer bewährten Regel eine Ausnahme zu machen. Von Christoph Sator

Für Bundespräsident, Kanzlerin und Außenminister gilt, was Reisen ins Ausland angeht, so etwas wie eine goldene Regel: Wenn ein Land im Wahlkampf ist, in den letzten Wochen vor der Entscheidung, fährt man dort nicht hin. Ausnahmen müssen gut begründet werden. So wie an diesem Freitag. Anderthalb Monate vor der Neuwahl am 1. November in der Türkei ist Frank-Walter Steinmeier ganz kurzfristig für ein paar Stunden in Ankara - bei einem der schwierigeren Partner, die Deutschland hat.

Wichtigster Grund für den ungewöhnlichen Besuch: Die Türkei gehört - wie die Bundesrepublik - zu den Staaten, die in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise im Mittelpunkt stehen. Die Konflikte in ihrer Nachbarschaft haben mehr als 2,3 Millionen Menschen ins Land getrieben. Allein etwa zwei Millionen Syrer leben derzeit in Flüchtlingslagern, in Billigwohnungen, bei Verwandten, auf der Straße. Hinzu kommen, als zweitgrößte Gruppe, etwa 250.000 Menschen aus dem Irak.

Ein «Schlüsselland» nennt Steinmeier deshalb die Türkei. Das ist noch zurückhaltend formuliert. Man mag sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn - aus welchen Gründen auch immer - die Türkei ihre Grenzen Richtung Europa freigeben würde. Mangels realistischer Aussichten auf baldige Rückkehr in ihre Heimat wollen viele Syrer weiter in die Mitte des Kontinents - neuerdings nicht mehr so sehr über das Meer, sondern besser auf dem Landweg.

So weit sind die Leute, die Steinmeier in Ankara zu Gesicht bekommt, noch lange nicht. Noch vor seinen Gesprächen mit dem islamisch-konservativen Staatschef Recep Tayyip Erdogan und dessen Ministerpräsident Ahmet Davutoglu von der AKP macht er Stopp in einem Registrierungszentrum der privaten Hilfsorganisation Asam. Das Gebäude ist mit einer vier Meter hohen Mauer und Stacheldraht geschützt. Draußen in der Sonne warten Hunderte darauf, dass sie hineindürfen.

Inzwischen werden hier Tag für Tag von mehr als 1000 Leuten die Personalien aufgenommen. «Die meisten wollen nach Europa, am liebsten nach Deutschland», berichtet der Koordinator der Hilfsorganisation, Ibrahim Kavlak. Steinmeier hat das schon geahnt. So lobt er die Türkei für ihre «großartige Hilfe», betont aber zugleich, wie wichtig es jetzt auch sei, eine «Rückkehr-Perspektive» zu ermöglichen. «Wir brauchen die Zusammenarbeit mit der Türkei dringender denn je.» Klares Ziel: verhindern, dass sich noch mehr auf den Weg nach Europa machen.

Neue Geldzusagen aus Berlin hat Steinmeier nicht dabei. Als amtierender G7-Präsident will Deutschland aber versuchen, neue Mittel bei anderen Geberländern locker zu machen. «Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir es nicht mehr bei Aufrufen belassen dürfen», sagt Steinmeier.

Die EU-Kommission hat schon angekündigt, der Türkei bis zu einer Milliarde Euro für die Aufnahme von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Mit dem Geld, auch aus Deutschland, sollen unter anderem Schulen finanziert werden. Aktuell gibt es in der Türkei etwa 350.000 Flüchtlingskinder, die keinen Unterricht bekommen. Die Gefahr, dass hier eine ganze Generation verloren geht, ist ziemlich groß.

Was bei Steinmeiers öffentlichen Termin kaum ein Thema ist: der wieder aufgeflammte Konflikt im Osten des Landes, wo sich Armee und die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nach dem Ende eines zweijährigen Waffenstillstands seit dem Sommer wieder bekriegen.

Viele haben Erdogan im Verdacht, mit dem gewaltsamen Vorgehen am 1. November die absolute Mehrheit zurückerobern zu wollen. Auch Steinmeier hat, von zu Hause aus, zu Mäßigung gemahnt. In Ankara belässt er es bei einem öffentlichen Appell an beide Seiten, die Fortschritte der eingeleiteten Versöhnung nicht gleich wieder zunichte zu machen. Er hofft, hinter den Kulissen mehr erreichen zu können. Die Linkspartei in Berlin wirft ihm vor, mit Erdogan einen «teuflischen Pakt» geschlossen zu haben.

Tatsächlich versucht die AKP ganz offensichtlich, die legale Kurdenpartei HDP in die Nähe der PKK zu rücken. Auf diese Weise will sie die absolute Mehrheit zurückgewinnen, die sie bei der Wahl im Juni verloren hatte. Bislang geht die Rechnung allerdings nicht auf. In den Umfragen liegt die HDP deutlich über der Zehn-Prozent-Hürde, die man in der Türkei für den Einzug ins Parlament braucht. Bleibt das so, wäre Erdogans Traum von einem auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystem dahin.

So legt Steinmeier Wert darauf, bei seiner Reise mitten im Wahlkampf eine neutrale Haltung einzunehmen. Als Unterstützung für Erdogan und dessen AKP will er den Besuch nicht verstanden wissen. Also empfängt er auch die Opposition. Der letzte Termin, kurz vor dem Rückflug: ein Treffen mit HDP-Chef Selahattin Demirtas bei sich im Hotel. (dpa)