Arabische Protestbewegungen im Überblick: Ein neuer Arabischer Frühling?

Seit Wochen und Monaten kommt es in einigen Ländern der arabischen Welt wieder zu Massenprotesten. Millionen protestieren in Algerien, im Irak sterben mehr als 260 Demonstranten. Regierungschefs treten zurück. Auch die westliche Politik spielt eine Rolle. Ein Überblick von Simon Kremer

Er ist wieder da: der Ruf, der schon 2011 durch die Straßen von Kairo, Tunis und anderen arabischen Hauptstädten waberte. Herausgeschrien von Millionen frustrierter Menschen: «Das Volk will den Sturz des Regimes!» Am vergangenen Wochenende war der Slogan des Arabischen Frühlings wieder zu hören. Dieses Mal in Beirut, Bagdad und Algier. Wie schon vor acht Jahren erlebt die arabische Welt derzeit eine massive Protestwelle.

«Man kann vielleicht sagen, dass es jetzt eine zweite Welle der Proteste ist», sagt Thomas Claes von der SPD-nahen Friedich-Ebert-Stiftung in der tunesischen Hauptstadt Tunis. Er ist Projektleiter für Wirtschaftspolitik und soziale Gerechtigkeit im Nahen Osten und Nordafrika (Mena). Nun gehe es den Menschen nicht mehr vorrangig um Forderungen nach Freiheit und Würde, sondern konkret um sozio-ökonomische Probleme: Steigende Preise, fehlende Jobs, eine korrupte Machtelite. «Die Gesundheits- und Bildungssysteme der Länder sind am Boden.» Der Staat komme seinen Fürsorgepflichten nicht mehr nach. «Für viele in der arabischen Welt ist der Staat nur die andere Seite des Knüppels», sagt Claes. «Aber es geht den Menschen um mehr als nur um Sicherheit.»

Ende September veröffentlichte der Internationale Währungsfonds (IWF) eine verheerende Bestandsaufnahme der Lage in der arabischen Welt. Das Wirtschaftsmodel der meisten Länder sei nur nach innen gerichtet und führe zu einer hohen Arbeitslosigkeit gerade unter jungen Menschen, die einen Großteil der Bevölkerung ausmachten. Bereits vor dem Arabischen Frühling habe die Mena-Region 2010 eine der höchsten Jugendarbeitslosigkeitsraten gehabt - mit mehr als einem Viertel der jungen Menschen ohne Job. Hinzu komme eine grassierende Korruption, die deutlich über anderen Ländern weltweit liege. Die Probleme, sind sich viele Analysten einig, sind heute die gleichen wie vor acht Jahren.

Viele Länder kämpften zudem mit hohen Staatsschulden, sagt FES-Experte Claes. Hinzu kämen zum Teil strikte Sparvorgaben des IWF oder der EU, die damit die Probleme zusätzlich anheizten. Die Länder, die jetzt mit Protesten zu kämpfen haben, seien 2011 relativ ruhig geblieben und holten jetzt ihre Umbrüche nach.

SUDAN

Die Welle begann mit Massenprotesten im Sudan. Tausende strömten von Dezember 2018 an auf die Straße, um gegen steigende Benzin- und Brotpreise zu demonstrieren. Bald richteten sich die Proteste auch gegen Präsident Omar al-Baschir, der fast 30 Jahre lang an der Staatsspitze stand. Im April wurde Al-Baschir von der Armee gestürzt. Nach einem Massaker an Demonstranten einigten sich Militär und zivile Opposition auf eine gemeinsame Übergangsregierung. Derzeit herrscht im Sudan vorsichtiger Optimismus.

ALGERIEN

Im Februar protestierten Hunderttausende Menschen, als der altersschwache und kranke Präsident Abdelaziz Bouteflika ankündigte, für eine fünfte Amtszeit kandidieren zu wollen. Nach Massenprotesten ließ auch das Militär von Bouteflika ab, der 82-Jährige trat zurück. Obwohl zahlreiche alte Minister und Unterstützer Bouteflikas verhaftet wurden, demonstrieren die Menschen weiter. Sie fordern echte freie Wahlen und keine Fortführung der undurchsichtigen Netzwerke im Hintergrund.

ÄGYPTEN

Im September kam es auch in Ägypten wieder zu Demonstrationen, wie schon 2011. Menschenrechtsgruppen beschreiben die Situation heute zum Teil schlimmer als vor dem Arabischen Frühling. Demonstranten warfen Präsident Abdel Fattah al-Sisi - der im vergangenen Jahr mit 97 Prozent als Staatsoberhaupt wiedergewählt wurde - Korruption und Verschwendung öffentlicher Gelder vor. Gleichzeitig wurden Subventionen gestrichen und die Währung verlor dramatisch an Wert. Doch der Staat reagierte energisch auf die Demonstrationen: Rund 4.300 Menschen wurden nach Angaben von Menschenrechtlern festgenommen. Seit Al-Sisis Amtsantritt gab es nach Angaben von Human Rights Watch mehr als 60.000 Festnahmen aus politischen Gründen. 

TUNESIEN

Das kleine nordafrikanische Land ist das einzige der Region, das nach den Umbrüchen tiefgreifende demokratische Reformen eingeleitet hat. Dennoch kommt Tunesien nicht zur Ruhe. Das Land kämpft mit großen wirtschaftlichen Problemen und einer weiterhin hohen Jugendarbeitslosigkeit. In freien Wahlen wurde die amtierende Politikerklasse diesen Herbst gnadenlos abgestraft. Die regierenden Parteien verloren massiv Stimmen, das neue Parlament ist zersplittert, eine neue Regierung noch nicht gebildet. Zum Staatspräsidenten wurde mit Kais Saied ein früherer Jura-Professor gewählt, der der Korruption den Kampf angesagt hat. Saied selbst sprach von einer neuen, demokratischen Revolution in Tunesien.

LIBANON

Die Ankündigung einer Gebühr auf Anrufe über WhatsApp und ähnliche Dienste brachte das Fass zum Überlaufen. Brennende Straßensperren und Zelte auf Hauptstraßen legten das Land lahm. Der Libanon hat eine der höchsten Staatsschuldenquoten weltweit, zuletzt gab es für die Kunden Probleme an den Bankautomaten, fast täglich kommt es zu Stromausfällen. Regierungschef Saad Hariri reichte seinen Rücktritt ein. Es ist unklar, wie es weitergeht.

IRAK

Im Irak eskalierte die Gewalt am heftigsten. Mehr als 260 Demonstranten starben seit Beginn der Proteste Anfang Oktober. Mehr als 11.000 wurden verletzt. Die Menschen protestieren gegen Korruption und Misswirtschaft. In einigen Teilen des Landes ist die Infrastruktur desolat. Die Menschen protestieren vor allem im Südirak nicht nur für mehr Jobs, sondern auch gegen Stromausfälle und schlechte Trinkwasserqualität. Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht. (dpa)