Analyse: Die Türkei fest im Visier der Dschihadisten

Der Anschlag der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) in der Silvesternacht in Istanbul hat die Türkei erschüttert, aber Experten nicht überrascht. Nach der türkischen Militärintervention gegen kurdische Milizen und die Dschihadisten in Nordsyrien war damit gerechnet worden, dass die IS-Miliz verstärkt in der Türkei zuschlagen würde. Experten sehen aber auch in der starken Polarisierung der türkischen Gesellschaft einen Grund für die wiederholten Angriffe der Extremisten.

Der Angriff auf den Nachtclub "Reina" bedeutet eine Eskalation seitens der Extremisten nicht nur durch die Wahl des Ziels und des Zeitpunkts, sondern auch durch ihr klares Bekenntnis zu der Bluttat. Die IS-Miliz hatte sich zuvor weder zum Selbstmordanschlag auf deutsche Touristen vor der Blauen Moschee im vergangenen Januar noch zu dem Angriff im Juni auf den Istanbuler Atatürk-Flughafen bekannt, die beide ihr zugeschrieben worden waren.

"Dies ist das erste Mal, dass sie sich mit so viel Trara bekannt haben", sagt der Extremismusforscher Charlie Winter vom King's College in London. Er gehe davon aus, dass der IS damit deutlich machen wolle, dass der Anschlag von der IS-Zentrale in Auftrag gegeben und nicht lediglich von einem IS-Sympathisanten auf eigene Faust ausgeführt wurde. Daher sei das Bekenntnis auch vom zentralen IS-Medienbüro gekommen und nicht von der IS-nahen Agentur Amaq.

"In den vergangenen Monaten war die Türkei fest im Visier des IS, womöglich mehr als jedes andere Land", sagt Winter. Zuletzt habe es im Dezember in einem Video, das angeblich die Verbrennung von zwei gefangenen türkischen Soldaten zeigt, Drohungen gegen die Türkei gegeben. Aber auch Anfang November hatte der IS-Führer Abu Bakr al-Bagdad in einer seiner seltenen Audiobotschaften zu Angriffen auf die Türkei aufgerufen.

Ankara war nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien von seinen westlichen Verbündeten lange vorgeworfen worden, die Augen vor den Aktivitäten der Dschihadisten in der Türkei zu verschließen. Auch wurde die islamisch-konservative Regierung von Recep Tayyip Erdogan beschuldigt, statt die radikalen Islamisten an der Reise über die Grenze nach Syrien zu hindern, sie im Kampf gegen Machthaber Baschar al-Assad noch zu unterstützen.

Im Juli 2015 aber erlaubte Ankara nicht nur der US-geführten Anti-IS-Koalition die Benutzung ihres Luftwaffenstützpunkts Incirlik, sondern flog erstmals auch eigene Angriffe auf die IS-Miliz in Syrien. Zudem nahmen die Behörden hunderte mutmaßliche IS-Mitglieder in der Türkei fest. Im August 2016 intervenierte die türkische Armee dann auch mit Bodentruppen in Syrien, um kurdische Milizen und den IS zurückzudrängen.

In der IS-Bekennernachricht wurde der Anschlag in Istanbul als Vergeltung für die türkische Offensive auf die IS-Hochburg Al-Bab bezeichnet und der Türkei vorgeworfen, die Christen zu unterstützen. Der türkische Politikexperte Özgür Ünlühisarcikli vom German Marshall Fund warnt dennoch davor, die Bedrohung durch den IS nur als "Nebeneffekt des syrischen Bürgerkriegs" zu betrachten. Vielmehr spiegele sie auch "die Radikalisierung innerhalb der Türkei" wider.

"Der Angriff ist die Fortsetzung der IS-Strategie, die Polarisierung in der Türkei zu nutzen, um sich in der türkischen Gesellschaft eine Machtbasis zu schaffen", sagt Ünlühisarcikli und verweist auf die Kontroverse um Silvester in der Türkei. Konservative Muslime lehnen Neujahr seit langem als fremde Tradition ab, und in der Freitagspredigt, die zwei Tage vor Neujahr in den Moscheen verlesen wurde, war das Feiern von Silvester als unislamisch kritisiert worden.

Unlühisarcikli glaubt daher, dass der IS "vor dem Hintergrund der polarisierenden Debatte über das Begehen von Neujahr den Angriff auf Menschen auf einer Silvesterfeier nutzen wollte, um einen weiteren Keil zwischen die Türken mit einem säkularen und jene mit einem konservativen Lebensstil zu treiben". (AFP)

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