Alternative Medien in der Türkei: Redaktion im Hinterzimmer

Journalisten in Haft und geschlossene Medien - die Presselandschaft in der Türkei wird immer eintöniger. Die Opposition klagt, kein Gehör zu finden. Online-Medien wollen wieder für Vielfalt sorgen. Von Mirjam Schmitt

Ein Tisch in der Mitte, sechs Laptops und eine Zimmerpflanze in der Ecke. Von einem nur etwa 20 Quadratmeter großen Raum in Kadiköy aus koordinieren die Redakteure des türkischen Netzwerks «dokuz8haber» die Nachrichtenlage: Fotos auswerten, Informationen verifizieren und den Twitter-Account mit mehr als 76.000 Followern bestücken.

«Das Internet ist die einzige Möglichkeit, die Zensur zu überwinden», sagt Chefredakteur Gökhan Bicici. Die Medien in der Türkei hätten schon immer unter Druck gestanden, doch seit dem Putschversuch im Juli 2016 sei es schlimmer geworden. Nachrichten von Bürgern, verbreitet über soziale Medien seien deshalb so wichtig.

Bicici läuft auf und ab und erklärt das Konzept: «dokuz8haber» greife auf ein Netzwerk von 250 Freiwilligen im ganzen Land zurück, die in journalistischen Standards geschult würden. Die Reporter gehen auf Pressekonferenzen der Opposition und übertragen sie live per Periscope, berichten aus dem Südosten des Landes oder über die «Nein»-Kampagne vor dem Referendum für ein Präsidialsystem - Themen, die in den Mainstream-Medien kaum vorkommen.

Per WhatsApp können Bürger zudem ihre Beobachtungen und Fotos senden. In der Istanbuler Zentrale von «dokuz8haber» fließt dann alles zusammen. Dort arbeitet ein kleines Team von Mitarbeitern, davon nur vier bezahlt, um die Informationen der Reporter und aus dem Internet zu prüfen.

«Die beste Quelle sind immer unsere eigenen Reporter», sagt Bicici. Tauche in den sozialen Medien etwa ein wichtiges Foto auf, dessen Quelle unklar sei, telefoniere die Redaktion herum, um noch mehr Informationen zu finden. «Wir wissen immer, wen wir anrufen müssen», sagt Bicici. Die Stärke von «dokuz8haber» seien die lokalen Reporter. Man könne das Netzwerk auch als «großes Verifizierungsprojekt» bezeichnen, sagt Bicici. «Es gibt eine Informationsflut in den sozialen Medien und wir sind der Filter.»

Das Internet sei oft die einzige Möglichkeit, um an Informationen abseits der Regierungslinie zu kommen. Der Staat hatte schon immer einen großen Einfluss auf die türkische Medienlandschaft. Die Mehrheit der Medien steht der islamisch-konservativen AKP-Regierung nahe. Hinzu kommt, dass wichtige Medienkonzerne wie Dogan und Dogus noch in anderen Bereichen aktiv sind, im Baugewerbe zum Beispiel oder aber im Energiesektor. Das macht sie abhängig von staatlichen Aufträgen und beeinflussbar.

Weil Journalisten fürchten, dass sie entlassen werden oder gegen sie ermittelt wird, betreiben sie zudem oft Selbstzensur. Zahlreiche Journalisten sitzen in der Türkei inzwischen in Haft, darunter der «Welt»-Korrespondent Deniz Yücel. Nach Angaben der unabhängigen Journalistenplattform P24 hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach dem gescheiterten Putsch mehr als 170 Medien und Verlage schließen lassen. Zu den geschlossenen Medien gehört Bicicis ehemaliger Arbeitgeber: Der Sender IMC TV, der vor allem aus den kurdischen Gebieten berichtete.

 «Es ist kein einziger alternativer Fernsehkanal übrig geblieben, da waren sie sehr präzise», sagt Bicici. Alternative Medien wie «dokuz8haber» gewinnen in der Türkei gerade wegen der zunehmenden Repression an Popularität. Der bekannte Journalist Rusen Cakir gründete etwa die Plattform Medyascope.tv. In den Online abrufbaren Sendungen kommen unter anderem Oppositionspolitiker zu Wort oder per Dekret entlassene Akademiker, die sonst kein Gehör finden.

Viele Journalisten, die ihren Job verloren haben, schreiben auf der Online-Zeitung «gazeteduvar», der ehemalige Chefredakteur der Zeitung «Cumhuriyet» gründete aus seinem Exil in Deutschland heraus das Online-Medium «Özgürüz». Der Zugang für Dündars Medium wurde aus der Türkei heraus gesperrt - das zeigt auch die Grenzen dieser Initiativen. Hinzu kommt, dass die Hauptinformationsquelle der Türken das Fernsehen ist.

Nach Angaben vom EU-Statistikamt Eurostat von 2016 benutzen nur 55 Prozent der türkischen Gesamtbevölkerung mindestens einmal wöchentlich das Internet. (Zum Vergleich: 87 Prozent in Deutschland). Bei jungen Menschen im Alter von 16 bis 29 Jahren sind es in der Türkei immerhin 71 Prozent, die das Internet mindestens einmal wöchentlich nutzen. Für Bicici liegt im digitalen Bürgerjournalismus dennoch die Zukunft. Deshalb will er sein Netzwerk auch noch ausbauen und 1.000 freiwillige Mitarbeiter ausbilden. Dazu finden zurzeit einmal im Jahr Schulungen statt, sagt Bicici. «Ich denke, wir werden ein Vorbild für andere sein.» (dpa)