Alle(s) unter Kontrolle - Saudi-Arabiens brachialer Reformkurs

Wenn Frauen in Saudi-Arabien erstmals Autofahren dürfen, werden eine Reihe von Aktivisten den Tag, für den sie gekämpft haben, hinter Gittern verbringen. Nur ein Beispiel für einen beispiellosen Reformkurs mit der Brechstange. Von Benno Schwinghammer

Die Geschichte, die der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman über sich lesen will, geht so: Er schenkt den Menschen in seinem Land die Freiheit, erlaubt den Frauen das Autofahren und führt das verkrustete Königreich mit seiner kühnen Reformagenda in die Moderne. Was die Autokratie in Riad aber vergessen machen will, ist das wirtschaftliche Kalkül hinter der Öffnung Saudi-Arabiens. Und die engen Schranken der neuen Freiheit, in die der Thronfolger jene skrupellos weist, die ihm nicht bedingungslos folgen.

Mit erst 32 Jahren ist Mohammed bin Salman der Hoffnungsträger vieler Saudis, von denen mehr als zwei Drittel unter 30 sind. Sie bewundern die Geschwindigkeit und den Wagemut, mit der er die erzkonservativen Strukturen in der Monarchie aufbricht. Vor dreieinhalb Jahren war er noch einer von Tausenden Prinzen in Saudi-Arabien. 2015 dann wurde sein Vater, König Salman, Herrscher und machte Mohammed Schritt für Schritt zum wohl mächtigsten Mann seit Staatsgründer Ibn Saud.

Seitdem hat sich das Land so schnell verändert wie nie zuvor in seiner Geschichte: Es gibt Konzerte, Messen und Shows. Im April öffnete nach 35 Jahren wieder das erste Kino, Frauen dürfen Fußballspiele besuchen, die strenge Geschlechtertrennung wird aufgeweicht. An die Adresse der Geistlichkeit - dem konservativen Grundpfeiler des Staates - ging die Ankündigung eines «moderaten Islams», der den radikalen saudischen Wahhabismus einfangen soll.

Eines der größten Symbole für die Unterdrückung der Frauen – das Autofahrverbot - ist nun gefallen. «MbS», wie der Kronprinz in Saudi-Arabien ehrfurchtsvoll genannt wird, wird deshalb nicht nur im Wüstenstaat als Retter glorifiziert. Doch seine Jugend, die ihm die Position des unverbrauchten Reformers erst eröffnete, macht ihn auch zum unerfahrenen und ungestümen Politiker, vor dessen Impulsivität der Bundesnachrichtendienst schon 2015 warnte.

Als Verteidigungsminister ließ er den Krieg im Jemen eskalieren. Und die Blockade des Nachbaremirats Qatar lähmt die gesamte Golfregion. Mitte Mai dann, einen Monat vor der Aufhebung des Frauenfahrverbots, nahmen Sicherheitskräfte mehr als ein Dutzend Aktivisten – unter ihnen eine Reihe Frauen - fest, die für die Abschaffung des Fahrverbots seit teilweise Jahrzehnten gekämpft hatten. Mindestens neun von ihnen sind noch immer im Gefängnis. Der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zufolge drohen ihnen wegen Vorwürfen wie der Unterwanderung des Staates bis zu 20 Jahre Haft.

Was paradox anmutet, ist für Saudi-Arabien-Experte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik jedoch folgerichtig, «denn Reformen werden im Saudi-Arabien des Kronprinzen Mohammed bin Salman grundsätzlich von oben angeordnet». Dabei stünden wirtschaftliche und soziale Reformen im Vordergrund, während die politischen Freiheiten eingeschränkt würden, schreibt Steinberg. «Mit den Festnahmen stellen der Kronprinz und sein Vater unmissverständlich klar, dass es Akteuren der Zivilgesellschaft nicht gestattet ist, Erfolge (...) für sich zu reklamieren.»

Die Politik erinnert dabei an die der Vereinigten Arabischen Emirate: Eine teilweise Öffnung bei gleichzeitiger absoluter Kontrolle. Dabei sind Verhaftungswellen Mittel zum Zweck: Schon bei Festnahmen Hunderter mächtiger Geschäftsleute - darunter einige Prinzen – bei einer Anti-Korruptionskampagne im Herbst warfen Beobachter dem Kronprinz vor, auch Rivalen aus dem Weg zu räumen.

Kurz vorher waren Dutzende einflussreiche Geistliche festgenommen worden. Zudem entspringen die Reformen im Königreich auch einem ökonomischen Kalkül und dienen vor allem auch dem dringend notwendigen Wirtschaftsumbau. Mit der «Vision 2030» will sich das schwerreiche Saudi-Arabien unabhängiger vom Öl machen. Ansonsten droht auf lange Zeit nicht nur der wirtschaftliche, sondern auch der politische Bedeutungsverlust - vor allem gegenüber dem regionalen Erzfeind Iran.

Mit dem Aufbau der Unterhaltungsindustrie - der Lizenzierung von Kinos und Shows - will das Land Milliarden verdienen. Damit das Land aber auch Technologie- und Innovationsstandort werden kann, braucht es weibliche Arbeitskräfte, die nicht Gastarbeiter für Fahrdienste bezahlen müssen. Fahrende Frauen sind für die Volkswirtschaft in Saudi-Arabien eine Win-win-Situation.

Andere Instrumente der Unterdrückung von Frauen bleiben dabei vorerst erhalten. Neben strenger Bekleidungsvorschriften gehen Frauenrechtler vor allem gegen das Vormundschaftssystem auf die Barrikaden: Frauen können in Saudi-Arabien Lebensentscheidungen noch immer nicht ohne die Zustimmung ihres männlichen Vormunds treffen.

Die Veränderung mit der Brechstange ist ein gefährlicher Weg für Mohammed bin Salman. Einige Teile der Gesellschaft kommen nicht mehr mit. Hinter vorgehaltener Hand äußern Geistliche und Konservative Kritik. Sie fürchten «MbS» genauso wie jene, die die Öffnung für richtig halten: «Ich bin ein Unterstützer der Reformen und jetzt im Exil, weil ich nicht im Gefängnis landen will», sagt der saudische Autor Dschamal Chaschukdschi, der nun in Washington lebt.

Chaschukdschi spürte vergangenes Jahr den wachsenden Druck auf Menschen, die sich offen über die Politik im Königreich äußern und verließ seine Heimat. Die Reformen seien notwendig, findet er, doch das harte Durchgreifen sei wegen der großen Unterstützung im Land absolut nicht gerechtfertigt. «Mohammed bin Salman hat keinen Grund, besorgt zu sein. Es gibt keine Opposition im Land.».

Wie aufgeladen die Situation im Königreich ist, zeigte sich im April: Donnernde Salven nahe des Königspalastes in Riad ließen viele Menschen direkt an einen Putschversuch denken. Doch die Sicherheitskräfte schossen nur eine Spielzeugdrohne ab. (dpa)