Aktivisten kritisieren Abriss eines historischen Basars in Hasankeyf

Vor der Überflutung der 12.000 Jahre alten Kulturstätte Hasankeyf in der Türkei haben Aktivisten und Oppositionspolitiker die Zerstörung des historischen Basars in der Altstadt angeprangert. «Sie zerstören die Geschichte der Menschheit», kritisierte Ridvan Ayhan, Anwohner und Aktivist. «Das ist der Ort an dem ich geboren und aufgewachsen bin. Es ist sehr schmerzhaft, das zu beobachten.» An die Stelle des Basars solle eine Straße gebaut werden.

Anwohner Cetin Bato sagte der dpa, etwa 70 Prozent des Basars seien schon abgerissen. «Es ist katastrophal», sagte er. Die Bagger zerstörten nicht nur irgendwelche Bauten, «sondern meine Vergangenheit und Erinnerungen». Er warf den Behörden vor, die Einwohner einschüchtern zu wollen, um sie zum schnelleren Umzug in eine Neubausiedlung zu bewegen. Die meisten hätten die Altstadt inzwischen schon verlassen.

Hasankeyf liegt in einer einzigartigen Kulturlandschaft am Fluss Tigris. Durch die Inbetriebnahme des rund 70 Kilometer entfernten Ilisu-Staudamms wird die Stadt voraussichtlich bis zum Ende des Jahres im Wasser versinken. Einwohner müssen in eine neue Siedlung umziehen.

Sezgin Tanrikulu, Abgeordneter der größten Oppositionspartei CHP, teilte am Donnerstag auf Twitter ein Video, auf dem zu sehen ist, wie ein Bagger Gebäude abreißt: «So wurde der historische Basar von Hasankeyf zerstört, ein Kulturgut, das mit seiner Vergangenheit von 12.000 Jahren Zeuge der Menschheit und von Zivilisationen ist. Und das alles für ein Projekt mit einer Lebenszeit von 50 Jahren...», schrieb er dazu.

Der Ilisu-Staudamm ist schon seit 1954 in Planung. Aktivisten wehren sich seit langem gegen die Flutung Hasankeyfs. Im Februar waren Aktivisten mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gescheitert.

Flussabwärts ist seit kurzem der neue Ilisu-Damm in Betrieb. Nun steigt das Wasser unaufhaltsam Richtung Hasankeyf. Zum Jahresende wird der Ort in einem Stausee von Großstadtausmaßen versunken sein.

In dieser Gegend haben Menschen schon zu Zeiten gelebt, als Jäger und Sammler sesshaft wurden, zum Beginn der Zivilisation. Nahe Hasankeyf sei eine Siedlung entdeckt worden, Hasankeyf Höyük, sagt die Archäologin Gül Pulhan, die im Flutungsgebiet Grabungen macht. In der Stadt selbst fänden sich heute vor allem Spuren aus dem Mittelalter. Der - bisher - denkmalgeschützte Ort in Kombination mit den Naturschönheiten im Tigris-Tal, das sei eine «einzigartige Kulturlandschaft», sagt die Hasankeyf-Expertin und Architekturprofessorin Zeynep Ahunbey. «Da wäre noch so viel zu erforschen und auszugraben gewesen.»

«Barbarei im 21. Jahrhundert» sei die Flutung, sagt der deutsche Umweltschützer Ulrich Eichelmann. Eichelmann, ein großer Mann mit protestgeradem Rücken in einer Stadt der resignierten Schultern, ist Mitte September in Hasankeyf, um Abschied zu nehmen. Zwischen 2006 und 2010 hatte er zuerst bei der Naturschutzorganisation WWF, dann mit einer eigenen NGO (Nichtregierungsorganisation), die heute Riverwatch heißt, einen Gutteil des internationalen Widerstandes gegen den Damm koordiniert.

Eichelmann sitzt in einem der Klippen-Restaurants, die über dem Tigris kleben wie Nester. Bald kommen die Bagger und planieren die Promenade, damit ein letztes Monument per Tieflader abtransportiert werden kann. Gerettet werden insgesamt acht, umgesiedelt in einen nahen «Archäologiepark», darunter ein Grabmal aus dem 15. Jahrhundert, ein Badehaus, ein Minarett. Einige Hasankeyf-Aktivisten sprechen von Hunderten schützenswerten Artefakten und Monumenten.

Deutschland und andere europäische Staaten hatten sich 2009 aus dem Damm-Projekt zurückgezogen, als klar wurde, dass die Türkei unter anderem Auflagen zum Schutz der Kulturgüter und Natur nicht erfüllte.

Später läuft Eichelmann hinauf zum Rathaus, wo er 2006 einen Baum der Hoffnung gepflanzt hatte. Früher waren die Proteste mal so groß, dass sie Promis wie Bianca Jagger angezogen haben, erzählt er. Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk habe sich für Hasankeyf eingesetzt, Popstar Tarkan. In Deutschland auch «Tatort»-Kommissare.

Firat Argun, der örtliche Hotelier, ist einer der wenigen, die sich heute noch widersetzen. Er ist vor Gericht gezogen, weil er die Entschädigung für seinen Besitz zu klein findet. Mitte September sind die Kinder im Schulstreik. Arguns Pension ist die einzige am Ort: ein paar Zimmer mit Klebebandreparaturen, Idyll unter Feigenbäumen.

«Jedes heilige Buch hat seine Version eines Paradieses, mit Granatapfelbäumen, Feigen, Tieren und Flüssen», sagt Argun und schaut traurig um sich. Hinter dem Garten dröhnen nun die Bagger. Damit die Burg, die einst als römische Militärbasis gedient haben soll, mit dem weichen Berggestein nicht in den Stausee rutscht, entsteht ein Stützhang aus Beton. «Ich hatte mein eigenes Paradies auf Erden», sagt Argun. Jetzt komme die Hölle.

Arguns «Hölle» ist die Neustadt, die die Regierung gebaut hat. Sie liegt gegenüber auf einem kahlen, brütend heißen Hang: Kolonien von Retortenhäusern der Baufirma Toki, die in der Türkei für die Gleichmacherei ganzer Großstädte verantwortlich ist. Wochen bevor das Wasser kommt, haben die Hasankeyfer, zum Entsetzen der Alten, viele ihrer Toten aus den Gräbern geholt und die Gebeine auf den Friedhof in der Neustadt umgebettet. Sie selbst sind geblieben.

Sie schimpfen über Pfusch am Bau. Argun zeigt bei einem Rundgang auf schiefe Wände und Stromleitungen, die wie Fußfallen aus dem Dreck ragen. Für die Pension in der Neustadt habe er immer noch keine Genehmigung, sagt er. «Keine Viehhaltung erlaubt», schimpft der Schäfer. Nicht mal Ofenbrot dürfe man drüben noch backen, sagt ein anderer. Die Tandor-Öfen produzierten zu viel Rauch für eine moderne Stadt. Die Hasankeyfer verlieren nicht nur die grüne Heimat mit Blick auf die eigene Geschichte. Es wird eine kulturelle Entwurzelung.

Die Regierung sieht das anders. Für sie ist die Flutung von Hasankeyf nicht der Verlust von Identität, sondern Fortschritt. Der Politiker Ömer Güzel, der Hasankeyf für Präsident Erdogans Partei AKP im Parlament der Provinz Batman vertritt, argumentiert, dass es schon lange schlecht gestanden habe um die Gemeinde. Die Drohung des kommenden Wassers habe jahrzehntelang Investitionen verhindert. Firat Arguns Pension sei das beste Hotel am Ort gewesen, sagt Güzel und meint es kritisch.

Güzel verkündet, dass das Herz der bescheidenen Wirtschaft von Hasankeyf, der Tourismus, überleben könne ohne den Charme des Originals. Allein die von den weiten Wassern umrahmte Burg werde Besucher anziehen. «Tauchtouristen» werden demnach kommen, um den ertrunkenen Ort zu sehen. In türkischen Medien ist die Rede von Jet-Skis. Firat Argun sagt scharf: «Ja, das wird wie Hawaii hier.»

Für die Türkei ist der Ilisu-Damm rund 70 Kilometer flussabwärts ein Monument des Fortschritts - Teil eines Entwicklungsprojekts mit Dämmen und Wasserkraftwerken, das armen Regionen Strom, Wasser, Arbeit bringen soll. Ulrich Eichelmann findet, die Türkei wiederhole im Namen des Fortschritts die Fehler der westlichen Welt. Man müsse doch heute keine Staudämme mehr bauen. Was hätte die Türkei für Möglichkeiten - zum Beispiel mit Sonnenenergie. 

«Nicht einmal eine Umweltverträglichkeitsprüfung hat's gegeben», sagt Eichelmann. Bedrohte Tiere und Pflanzen werden nun aussterben, warnt er. Leopardenbarbe. Euphrat-Weichschildkröte. Euphrat-Pappel.

Der Effekt des Damms wird aber noch weit über die Türkei hinaus spürbar sein - unter anderem bis in den Süden des Iraks. Wenn im Frühjahr das Wasser des mächtigen Tigris im Stausee zurückgehalten werde, fehle es bis in die Mesopotamischen Sümpfe bei Basra, sagt Eichelmann. Und hier wächst der Fall Ilisu-Damm über das Lokale hinaus, über die Sorgen von Hotelier Argun und die Hoffnungen des AKP-Politikers Güzel. Er wird zur potenziellen politischen Krise.

Wasser ist Leben ist Macht. Die Totalvereinnahmung des Tigris in der Türkei bedeutet Kontrolle über die Lebensader einer ganzen, grenzüberschreitenden Region. Die Anrainer sind alarmiert. Ab dem 8. Oktober soll das Herz von Hasankeyf, die Promenade, endgültig evakuiert sein, um planiert zu werden, so hat es der Gouverneur zumindest angeordnet. Firat Argun will in seinem Paradies ausharren, bis das Wasser kommt. (dpa)