Unvorbereitet

Die ägyptischen Muslimbrüder versuchen, möglichst viele Machtpositionen zu besetzen. Die Ägypter sind zunehmend erbost über die "Händler der Religion", die offenbar das alte Regime durch eine neue ausbeuterische Elite ersetzen wollen. Eine Analyse von Muna El-Shorbagi

Von Muna El Shorbagi

Die Muslim-Bruderschaft (MB) hat die ägyptische Revolution weder begonnen noch angeführt. Ihre Führung teilt noch nicht einmal die Forderungen der Revolutionäre nach Freiheit, radikaler Demokratie und sozialpolitischer Umverteilung.

Nach dem Sturz des Mubarak-Regimes profitierte die MB aber als einzige gut organisierte politische Kraft von dem entstandenen Machtvakuum. Der Volksaufstand war unfähig, aus seinen Visionen ein konkretes politisches Programm zu machen.

Die MB beteiligte sich erst an der Revolution, als klar war, dass es um mehr als ein vorübergehendes Aufbegehren der unzufriedenen Bevölkerung ging. Mittlerweile hat die MB mit dem Militär, das im Februar 2011 die Regierung übernahm, eine Übereinkunft über die Machtaufteilung gefunden.

Die Details wurden graduell ausgehandelt, wobei es auch eine Reihe von begrenzten Machtkämpfen gab. Beide Seiten waren daran interessiert, die Folgen der Revolution zu begrenzen. Das Militär unterstützte den politischen Aufstieg der MB, im Gegenzug wurden seine militärischen und wirtschaftlichen Interessen gewahrt.

Teile und herrsche

Ägyptens Präsident Mohammed Mursi hält eine Rede vor dem Präsidentenpalast in Kairo; Foto: Reuters
Leere Versprechen, vage politische Ziele: "Bisher haben Mursis Regierung und die von der MB dominierten gesetzgebenden Organe Wirtschaft und Zivilgesellschaft kaum gestärkt. Die Preise steigen und die Finanzprobleme werden immer deutlicher sichtbar. Die Regierung wirkt konfus und überfordert", schreibt Muna El-Shorbagi.

​​Der Wahlsieg der MB war kein notwendiges Resultat der Revolution. Bis zu acht Millionen Ägypter hatten sich an Demonstrationen, Streiks und Besetzungen öffentlicher Plätze beteiligt. Verschiedene Meinungsumfragen zeigten, dass acht von zehn Ägyptern die Revolution 2011 unterstützten. Die Ziele der Revolution unterscheiden sich stark von dem islamistischen Programm, das die MB heute zusammen mit salafistischen Gruppen durchzusetzen versucht.

Aktuelle Ereignisse zeigen, dass der Geist der Revolution immer noch die Kraft hat, Menschen in Groß- und Kleinstädten und sogar ländlichen Gegenden zu mobilisieren. Es scheint, als wäre die MB zwar im Amt, hätte aber nicht durchgreifende Macht.

Ihre Zustimmung in der Bevölkerung schwindet – die Hälfte der Wähler, die in den Parlamentswahlen 2012 für sie stimmte, votierte schon einige Monate später bei der nächsten Präsidentschaftswahl nicht mehr für den MB-Kandidaten.

Die Revolution überraschte die MB. Sie musste sich plötzlich nicht nur der Auseinandersetzung mit anderen politischen Kräften stellen, sondern sah sich auch mit internen Konflikten konfrontiert. Diese waren solange nicht ausgebrochen, wie angesichts der staatlichen Repression gemeinsame Ideologie und Solidarität für Geschlossenheit sorgten.

Im Gegensatz zur Führung der MB mit vielen Angehörigen der Geschäfts- und Bildungseliten gehört deren Basis vor allem der ägyptischen Mittel- und unteren Mittelschicht an. Viele dieser Leute befürworten die Forderungen der Revolutionäre nach Freiheit, Transparenz, sozialer Gerechtigkeit und mehr politischer Teilhabe.

Die Führung der MB begegnete der doppelten Herausforderung, indem sie taktische Bündnisse mit salafistischen Gruppen einging. Das neue politische Lager versucht den revolutionären Diskurs zu islamisieren, indem es die Dichotomie eines muslimischen "Wir" und eines anti-religiösen, verwestlichten "Denen" konstruiert.

Das islamistische Bündnis

Ursprünglich präsentierte sich die MB als gemäßigter Kopf dieses Bündnisses, während die salafistischen Gruppen auf Konfrontationskurs gingen. Sie griffen Sufi-Heiligtümer und Oppositionelle an, forderten Geschlechtertrennung, Alkoholverbot und die Verhüllung von Pharaonen-Statuen.

Protetste gegen Mursi in Kairo; Foto: picture alliance/dpa
Ägyptens neuer Pharao? Seit dem Ende der Diktatur Hosni Mubaraks richten sich die Proteste der säkularen Opposition gegen den islamistischen Nachfolger Mursi und die Muslimbrüder, denen die Demonstranten vorwerfen, demokratische Grundrechte mit Füßen zu treten und die Ideale der Revolution zu verraten.

​​Doch die Rollen haben sich verwischt. Es hat blutige Auseinandersetzungen zwischen Muslimbrüdern und Oppositionellen gegeben, während die salafistische Nour-Partei nun gelegentlich Entgegenkommen gegenüber der Opposition zeigt.

Das islamistische Bündnis stimmt in einigen Kernaspekten überein. Dazu gehört

- auf einer islamischen Verfassung zu beharren,

- Präsident Mursi gegen seine Gegner zu verteidigen,

- sich widrigen Urteilen der zunehmend politisierten Justiz zu widersetzen und

- Oppositionsmedien zu behindern.

Anders als in der MB haben die Salafisten keine hierarchische Struktur. Sie setzen sich aus losen Gruppierungen um charismatische Scheichs und ehemals militante Dschihadisten zusammen.

Die nicht dschihadistischen Salafisten haben sich traditionell aus der Politik herausgehalten, um ihr puristisches Islam-Verständnisses nicht zu korrumpieren. Die neu entstandenen salafistischen Parteien schwanken jetzt zwischen puristischer Ideologie, militanter Gesinnung und pragmatischen Notwendigkeiten.

Das Ergebnis ist ein doppelter Diskurs, der sich einerseits an die breite Öffentlichkeit aber andererseits an die hochideologische Basis richtet. So entstehen selbstverständlich Inkohärenz und Konfliktstoff. Zugleich wachsen Spannungen mit der MB, die ihre eigenen Mitglieder in einflussreiche Position hebt und Versprechen nicht nachkommt, die Macht mit Salafisten zu teilen.

Die meisten Ägypter meinen heute, dass die Reformen der Regierung Mursis darauf hinauslaufen, den Staat mit eigenen Leuten zu durchdringen. Kürzlich gab es aus diesem Grund sogar erstmals einen Konflikt zwischen der MB und der Nour-Partei.

Die Struktur der MB prägt ihre politische Haltung. Sie ist eine strikt hierarchische Organisation, die auf Gefolgschaft und Disziplin beruht.

Politische Inhalte

Im April 2012 veröffentlichte die MB ihr Programm "Nahda" (Wiedergeburt) zur zukünftigen Entwicklung Ägyptens. Das elfseitige Dokument verheißt die Verkleinerung des Staatsapparates und stärkere Rollen für Privatsektor und Zivilgesellschaft. Es verspricht die Verdopplung der Wirtschaftsleistung in fünf Jahren, die Beseitigung des Analphabetismus, Bildungsreformen und die Neugliederung des Sicherheitsapparates. Das Militär soll neu ausgerüstet und die internationale Rolle Ägyptens gestärkt werden.

Das Dokument bleibt aber vage und sagt wenig darüber aus, wie die Ziele erreicht werden sollen. Einen Plan für soziale Gerechtigkeit – ein Hauptziel der Revolution – enthält es nicht. Auf Armutsbekämpfung nimmt es nur indirekt im Zusammenhang mit der Belebung der islamischen Institutionen "Waqf" (religiöse Stiftung) und "Zakat" (verbindliche karitative Spenden) Bezug.

Bisher haben Mursis Regierung und die von der MB dominierten gesetzgebenden Organe Wirtschaft und Zivilgesellschaft kaum gestärkt. Die Preise steigen und die Finanzprobleme werden immer deutlicher sichtbar. Die Regierung wirkt konfus und überfordert. Kürzlich widerrief sie unpopuläre Steuer- und Subventionsentscheidungen ein paar Stunden nachdem sie sie verkündet hatte.

Die Korruption besteht weiter. Die Medien sind voll von Berichten über Unternehmer der MB, die Konkurrenten übernehmen oder Komissionsgelder von Geschäftsleuten verlangen. Sie treffen auch Vereinbarungen mit Repräsentanten des alten Regimes.

In einer Verfassungserklärung sicherte sich Präsident Mursi im letzten November weitreichende Vollmachten. Seither wurden die Proteste immer heftiger. Doch obwohl Millionen von Menschen dagegen demonstrierten, setzte die MB in der verfassungsgebenden Versammlung ihren Entwurf durch, nachdem sich deren nicht-islamistische Mitglieder zurückgezogen hatten.

Die neue Verfassung gibt dem Präsidenten das Recht, die regionalen Gouverneure und die Spitzen beinahe aller staatlichen Institutionen, einschließlich der Zentralbank, zu ernennen. Neue Regeln und Gesetzesentwürfe über Medien, Demonstrationen und die Aktivitäten von NGOs und Gewerkschaften dienen der Einschränkung und Kontrolle, nicht der Sicherung von Rechten und Freiheiten.

Es gibt zurzeit keine handlungsfähige formale Opposition in Ägypten. Immer häufiger kommt es zu Demonstrationen, Streiks und Gewalt. Protestierende greifen landesweit Büros der MB an und fordern "das Ende der Herrschaft des Murshid".

Der Murshid ist der "Oberste Lenker" der MB. Auf der anderen Seite gehen Sicherheitskräfte und Mitglieder der MB sowohl mit Gewalt als auch rechtlich gegen Journalisten und Aktivisten vor. Im Dezember 2012 und abermals im März 2013 wurden Menschen entführt und in Moscheen gefoltert.

Außenpolitik

Was die Außenpolitik betrifft, hat die MB die Unterstützung der USA gewonnen, indem sie zusicherte, die bisherige Feindseligkeit gegenüber Israel aufzugeben und US-Interessen in der Region anzuerkennen. Sie führt den wirtschaftsliberalen Kurs des alten Regimes fort.

Mit Blick auf den Friedensvertrag mit Israel sagte ein FJP-Vertreter, FJP und MB würden "den internationalen Verpflichtungen nachkommen, Punkt". Die israelische Zeitung Haaretz schrieb im vergangenen Sommer, dass die Sicherheitskooperation zwischen Israel und Ägypten besser denn je seit dem Camp David Abkommen sei. Ägypten übte im Winter Druck auf die Hamas aus, Israels Bedingungen im Gaza-Streifen zu erfüllen.

US-Außenminister Kerry trifft Ägyptens Präsident Mursi in Kairo; Foto: picture-alliance/dpa
Neue strategische Allianzen mit Washington: US-Außenminister John Kerry besuchte Anfang März Ägypten. Sein Treffen mit Ägyptens Präsident Mursi wurde von Protesten und Boykottaufrufen überschattet: Oppositionelle werfen der US-Regierung vor, sie unterstütze die regierenden Muslimbrüder, obwohl diese die Spielregeln der Demokratie nicht beachteten.

​​Die Regierung hält am strategischen Bündnis mit Washington fest und erlaubt den USA die Nutzung des Luftraums sowie die Stationierung von Truppen und Überwachungsgerät in der demilitarisierte Zone C des Sinai. Für die USA kann sich die von der MB geführte ägyptische Regierung vielleicht sogar als wertvollerer Partner als das alte Regime erweisen, wenn diese dank Legitimation durch Wahlen und islamistischem Anstrich Einfluss auf die Hamas und andere islamistische Gruppen nehmen kann.

Im Gegenzug verzichten die USA darauf, auf Ägypten mit Blick auf Demokratisierung, Menschenrechte und Freiheit allzu großen Druck auszuüben. US-Politiker raten der Opposition zu Kompromissen anstatt auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten zu beharren. Washington versorgt Ägypten mit Entwicklungs- und Militärhilfe und hat versprochen, sich für einen IWF-Kredit einzusetzen.

Ein weiterer Verbündeter Ägyptens ist Qatar, wohingegen Saudi-Arabien, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate skeptisch bleiben. Ihr Misstrauen beruht darauf, dass die MB sich 1990 gegen US-Eingriffe zur Befreiung Kuwaits von irakischer Besetzung wandte.

Qatar hofft seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss in der Region auszubauen, indem es islamistische Gruppen in Libyen, Syrien und Tunesien unterstützt und dabei besonders MB-nahe Gruppen fördert. Es erhofft sich strategische Investitionsmöglichkeiten in Ägypten. Zudem sichert sich Qatar Unterstützung für seine Kandidaten in regionalen und internationalen Organisationen.

Doha hat mit fünf Milliarden Dollar die Devisenreserven von Ägyptens Zentralbank gestärkt. Al-Jazeera unterstützt mittlerweile eindeutig die MB. Die ägyptische Opposition sieht Qatars wachsenden Einfluss aber kritisch.

Ausblick

Bisher scheint es, als würden die MB das alte Regime mit einer neuen Elite ersetzen, die bereit ist, die Ressourcen des Landes auszubeuten und die Menschen im Land zu unterdrücken. Die große Frage ist, ob das gelingt. Dafür wäre beispiellose Unterdrückung nötig. Denn die Revolution hat ein autoritäres Regime gestürzt, und seither unterwerfen sich die Menschen Einschüchterungsversuchen und Unterdrückung nicht mehr.

Die MB hatte vermutlich nicht vor, Gewalt eskalieren zu lassen, und hoffte wohl auf stärkere Hegemonie. Aber mit einer Opposition konfrontiert, die stärker als erwartet ist, greift sie nun nach möglichst viel Macht. Die aktuelle Regierung verlässt sich mehr auf direkte, indirekte und taktische Unterstützung der USA, Qatars und der Armee als auf die eigene Bevölkerung.

Ihre Herrschaft ist alles andere als gefestigt. Die MB wird durch Proteste, eine belebte oppositionelle Medienlandschaft und dem "tiefen Staat" angefochten. Dieser besteht aus der staatlichen Bürokratie, der Justiz und dem Sicherheitsapparat. Alle stammen aus der Zeit des Mubarak-Regimes und verfolgen Partikularinteressen.

Der pragmatische Kurs der Regierung in Wirtschafts- und Außenpolitik stimmt nicht mit ihrer ideologischen Rhetorik überein. Ihre Innenpolitik führt derweil zu Ideologisierung und Gewalt. Es wird schwierig sein, künftig einen gemäßigteren Kurs einzuschlagen.

Ägypter sind für ihre Religiosität bekannt, doch ihr traditionelles Verständnis von Religion beruht auf Leben, Toleranz, Spiritualität und menschlichen Werten. Die Bevölkerung ist die Armut leid und möchte nicht, dass Religionsführer sich in ihr Privatleben einmischen.

Viele gewinnen mittlerweile den Eindruck, dass sie ihr traditionelles Verständnis von Religion gegen die "Händler der Religion" verteidigen müssen. Deshalb könnte das islamistische Experiment der MB das Land näher denn je an einen wahrhaft säkularen Staat heranführen.

Muna El-Shorbagi

© Zeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit 2013

Muna El Shorbagi lebt in Kairo. Sie arbeitet an einer Promotion an der Freien Universität Berlin darüber, wie radikal-islamistische Vorstellungen von "selbst" und "anderen" verschiedene Gesellschaftsgruppen infiltrieren.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de