Botschaft für die Religiösen

Niemand weiß, wer Ägypten Ende dieser Woche regieren wird. Mursi? Ein Übergangspräsident? Die Armee? Doch es gibt auch Gewissheiten: Die Muslimbrüder, die noch vor einem Jahr schier unbesiegbar schienen, sind spektakulär gescheitert. Ein Kommentar von Sonja Zekri

Von Sonja Zekri

Ein paar Millionen Demonstranten sind eine beeindruckende Macht, die kein gewählter Präsident ignorieren kann. Mursi und die Muslimbrüder haben mehr Menschen gegen sich aufgebracht als je gegen Mubarak demonstrierten.

Die Proteste waren, gemessen an der Kopf-ab-Rhetorik auf beiden Seiten, bemerkenswert friedlich. Kein Blutbad - ein Volksfest. Keine Brotunruhen - ein Aufbegehren der strangulierten Mittelschicht. Kein Aufstand gegen den Islam, sondern gegen eine paranoide Geheimorganisation, die eine tolerante 7.000-jährige Kultur ins Gefängnis ihrer frömmlerischen Doktrin sperren will. Ein Land als Laboratorium für ein pädagogisches Experiment - das geht entweder mit viel Zeit oder viel Druck.

Spektakuläres Scheitern

Natürlich gehören Aufstände gegen gewählte Präsidenten nicht zu den Empfehlungen für die parlamentarische Demokratie. Aber für postrevolutionäre, postautoritäre Übergangssysteme sind sie ein Klassiker: Die Erwartungen sind riesig, die Wirtschaft angeschlagen, die Institutionen schwach, das alte Regime destruktiv, das politische Personal ungeübt. Bleibt die Straße.

Anti-Mursi-Demonstrant in Kairo; Foto: AP
"Irhal</em> - Hau ab!" - Bei landesweiten Protesten gegen den umstrittenen Präsidenten mit Millionen von Teilnehmern waren am Sonntag (30.6.) mindestens 16 Menschen getötet worden. Die Opposition setzte Mursi am Montag ein Ultimatum bis Dienstagnachmittag, um zurückzutreten.

​​Niemand weiß, wer Ägypten Ende dieser Woche regieren wird. Mursi? Ein Übergangspräsident? Die Armee? Die Angriffe auf die pompöse Parteizentrale der Muslimbrüder - ein Symbol für ihren Machtanspruch -, dazu die ersten Toten - all das lässt ahnen, dass die Gewalt noch weiter zunehmen wird. Und es gibt Gewissheiten: Die Muslimbrüder, die noch vor einem Jahr schier unbesiegbar schienen, sind spektakulär gescheitert. Mursis Wahlsieg schien den Siegeszug der Islamisten zu krönen, das Ende der Autokraten fast zwangsläufig in einen Frühling der Frommen zu münden.

Nun sind die Muslimbrüder, die Mutterorganisation aller islamistischen Gruppen, zum Ballast der Religiösen in der ganzen Region geworden. Die demonstrative Frömmigkeit der Bruderschaft hat ihre politischen Fehler nicht verdecken können.

Monopolisierung des Glaubens

Viele konservative Ägypter begriffen diese Frömmigkeit sogar als Versuch, den Glauben zu monopolisieren. Muslimbrüder sind nicht die besseren Politiker, sie sind nicht mal die besseren Muslime. Diese Erkenntnis hat sich - auch dies gehört wohl zu den Besonderheiten von Übergangssystemen - in blitzartiger Geschwindigkeit durchgesetzt.

Wenn die Muslimbrüder klug wären, zögen sie sich jetzt zurück, läsen einige Handbücher über Inklusion und versuchten in ein paar Jahren den Neuanfang. Ein Teil der Ägypter bevorzugt religiöse Parteien. Diese Wählergruppe braucht ein Angebot, sonst wird sie zur Beute der Radikalen.

Wenn die Opposition klug ist, gibt sie den Muslimbrüdern die Chance, die Religiösen zu binden. Vor allem sollte sie die Anti-Mursi-Millionen nicht als Wahlkampfhelfer für die katastrophal herumhampelnde Altherrenriege der Baradeis, Mussas und Sabahis begreifen. Es wäre sinnvoll, wenn Ägyptens Politiker ihr Land nicht mehr als Trophäe sehen.

Sonja Zekri

© Süddeutsche Zeitung 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de