"Jemand musste nach Kairo"

Mit seinen Erinnerungen schreibt der ehemalige Nahost-Korrepondent Ulrich Kienzle zugleich ein Stück bundesrepublikanische Mediengeschichte. Eine Rezension von Andreas Pflitsch

Von Andreas Pflitsch

In den Nahen Osten hat es ihn nur zufällig verschlagen: Als 1973 der Oktoberkrieg ausbricht, schickt die ARD Ulrich Kienzle nach Ägypten, denn: "Jemand musste nach Kairo." Da der Flugverkehr dorthin eingestellt ist, führt die Reise über das libysche Tripolis, "meine erste Begegnung mit der Arabischen Welt", wo der frischgekürte Korrespondent in Ermangelung von Hotels im Taxi übernachten muss.

Aus seiner damaligen Überforderung macht Kienzle rückblickend keinen Hehl: "Wenig begriff ich von dem, was um mich herum passierte. Ich sprach kein Wort Arabisch und konnte die Schrift nicht lesen." In Kairo angekommen produziert er während der zwei Kriegswochen fast ein Dutzend Berichte für die Tagesschau, von denen, wie er später erfahren sollte, kein einziger in Deutschland ankommt: Die ägyptischen Behörden hatten sämtliche Beiträge abgefangen.

Improvisation gefragt

Geschichten wie diese zeigen, dass hier jemand aus längst vergangenen Zeiten berichtet, zu Arbeitsbedingungen, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Nicht nur, dass Telefonverbindungen aus dem Nahen Osten eine Sache von Glück und Geduld waren, sondern auch die Tatsache, dass Filmbeiträge eingeflogen werden mussten, dürfte all denen nur schwer vermittelbar sein, die damit aufgewachsen sind, dass das Weltgeschehen überall fast in Echtzeit abrufbar ist.

Opfer des Massakers von Sabra, bei Beirut, 24. 09.1982; Foto: AP
1982 berichtete Ulrich Kienzle als einer der ersten von den Gräueltaten in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila. Er musste "zusehen, wie ein Land die letzten Reste von Zivilisation abschüttelte"

​​Seine Journalistenkarriere hat Kienzle vor einem halben Jahrhundert begonnen, 1962, beim Süddeutschen Rundfunk, auch das eher zufällig. In jenem Jahr war das ZDF gegründet worden und hatte von der ARD, wie er uneitel berichtet, derart viele Mitarbeiter abgeworben, dass man dort dringend Leute brauchte: "Ich konnte nichts und landete eine Woche später trotzdem beim SDR", das alles "ohne jede journalistische Ausbildung."

Kienzle berichtete fortan für die Tagesschau und für den Weltspiegel, unter anderem aus Ägypten, Zypern und dann, während des libanesischen Bürgerkrieges, aus Beirut, wo er Nachfolger des legendären Gerhard Konzelmann wurde. Beirut wirke "wie eine Hafenstadt an der Côte d'Azur, von Orient keine Spur", stellt er bei seiner Ankunft enttäuscht fest, ist aber bald beeindruckt von der "quirligen und quicklebendigen Stadt", wo es sich "wie im Rausch" lebe.

Staunen über die Welt

Die Schilderungen aus dem libanesischen Kriegsalltag nehmen den größten Raum in Kienzles Buch ein, das in seinen besten Passagen launige Unterhaltung mit journalistischer Gründlichkeit verbindet. Kienzle plaudert entspannt aus seinem Journalistenleben, und man hört ihm vor allem deswegen so gerne dabei zu, weil er, bei allem spürbaren Stolz über die Pionierleistungen jener Tage, sich selbst weniger Ernst nimmt, als viele seiner Nahostexpertenkollegen.

Saddam Hussein und sein Sohn Odari, 1990; Foto: AP
"Einer der peinlichsten Momente meines Lebens": Während der irakischen Besetzung Kuweits 1990 führte Kienzle ein Interview mit dem Diktator Saddam Hussein.

​​Kienzle erklärt nicht die Welt, er staunt über sie. Und gelegentlich verzweifelt er an ihr. 1982 berichtet er als einer der ersten von den Massakern in den Palästinenserlagern Sabra und Schatila, und seine Erinnerungen an das Erlebte gehen auch noch drei Jahrzehnte nach den Ereignissen nahe. Er musste damals, fasst er zusammen, "zusehen, wie ein Land die letzten Reste von Zivilisation abschüttelte."

Von der großen Politik kommt er immer wieder auf das persönliche Erleben zurück und gesteht beispielsweise, dass er damals dem ständigen Stress der Bedrohung mit "Unmengen von Alkohol in sämtlichen Varianten" begegnet sei.

"Eine Art CSU mit leichter Feldartillerie"

Mit seinen Berichten scheute Kienzle auch nicht vor Provokationen zurück. So bezeichnete er einmal in der Tagesschau die libanesische Kata'ib als "eine Art CSU mit leichter Feldartillerie".

Neben der Kriegberichterstatterprosa finden sich Erinnerungen an Besuche in Kairo, Damaskus und Dubai, sowie an Begegnungen mit Muammar al-Gaddafi ("ein begnadeter Exzentriker") und Saddam Hussein.

Vor dem Interview mit letzterem, während der irakischen Besetzung Kuweits 1990, nimmt man ihm Federhalter und Krawattennadel als, "potenzielle Mordinstrumente" ab, nach dem Interview ergreift der Diktator die Hand des Journalisten, der "unversehens Händchen haltend mit Saddam Hussein in der Empfangshalle seines Palastes" steht: "Einer der peinlichsten Momente meines Lebens", den das Buch auch fotografisch dokumentiert.

Buchcover 'Abschied von 1001 Nacht'
Die Lektüre von Kienzles Buch ist "launige Unterhaltung verbunden mit journalistischer Gründlichkeit", resümmiert Andreas Pflitsch.

​​Kienzles Erinnerungen bieten weit mehr als die allermeisten der unzähligen Sachbücher über den "Krisenherd Nahost", da er zugleich Nahost- und Fernsehgeschichte schreibt und Einblicke in die Hochzeit der Auslandskorrespondenten bietet, "damals ein absoluter Traumjob".

Walter Mechtel, der 1966 das Nahostbüro der ARD in Beirut gründete, soll unmittelbar nach seiner Ankunft gefragt haben, wo der libanesische Präsident seine Anzüge schneidern lasse: "Gleich zehn Anzüge bestellte er daraufhin beim Schneider des Staatschefs, und wenn er mit diesen changierenden Renommierteilen in der Stuttgarter Redaktion auftauchte, waren alle etwas peinlich berührt."

Sendungsbewusstsein als "Weltenerklärer"

Hinter Anekdoten wie dieser steckt ein Stück bundesrepublikanischer Mentalitätsgeschichte. Das bis heute nachhallende Haudegen-Image der Nahost-Korrespondenten wird hier an seine Wurzeln zurückverfolgt, ihre Draufgängerattitude und ihr Sendungsbewusstsein als "Weltenerklärer".

Kienzle selbst bekennt, er sei sich "unheimlich wichtig" vorgekommen, als er zum ersten Mal auf den zypriotischen Regierungschef traf: "Ich wähnte mich im internationalen Journalismus angekommen. Nicht ein Gemeinderat von Sindelfingen saß mir gegenüber, sondern ein leibhaftiger Ministerpräsident."

Die mediale Aufbruchstimmung der späten 1960er Jahre traf sich dann mit dem überspannten politischen Idealismus jener Tage. "In Bierkneipen", erinnert sich der Autor an seine Zeit beim WDR in Köln, "warfen wir unser spießiges Leben über Bord und glaubten, die Weltrevolution lasse sich mit ein bisschen Kölsch herbeitrinken."

Kienzles Memoiren beleuchten so nicht nur seinen, wie es im Untertitel heißt, "Versuch, die Araber zu verstehen", sie beschreiben auch einige der Gründe, warum bis heute so viele Missverständnisse zwischen den beiden vermeintlich fremden Welten herrschen.

Andreas Pflitsch

© Qantara.de 2012

Ulrich Kienzle, Abschied von 1001 Nacht. Mein Versuch, die Araber zu verstehen, Stuttgart: Sagas Edition 2011.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de