75 Jahre Israel: Vom Agrarstaat zur Start-up-Nation im Schatten des Nahostkonflikts

Yiron. Vom Agrarstaat zur Start-up-Nation, von linkssäkularer Kibbuz-Gemeinschaft zu rechtsreligiöser Regierungskoalition: Israel hat in den 75 Jahren seines Bestehens einen tiefgreifenden Wandel durchlebt - gesellschaftlich wie politisch. Dominierten nach der Staatsgründung am 14. Mai 1948 noch die sozialistischen Ideale der osteuropäischen Gründerväter die Entwicklung des Landes, wichen diese später wirtschaftlichem Liberalismus und einer zunehmend polarisierten Gesellschaftsstruktur im Schatten des Nahostkonflikts.



In den Anfangsjahren spielten die Kibbuzim laut dem Soziologen Juval Aschusch von der Akademischen Hochschule Westgaliläa "eine wesentliche Rolle beim Aufbau des Landes". Sie waren zudem bei der Verteidigung zentral - wie der Kibbuz Jiron. Errichtet nach dem Unabhängigkeitskrieg 1949 auf den Ruinen eines palästinensischen Dorfes an der Grenze zum Libanon, wurde Jiron von Mitgliedern einer Eliteeinheit der jüdischen Untergrundarmee Hagana gegründet, dem Vorläufer der israelischen Armee.



Schon 30 Jahre nach der Staatsgründung wurden die Genossenschaften jedoch zum Auslaufmodell, ausgelöst durch die Wirtschaftskrise der 1980er Jahre und den Zerfall der Sowjetunion. Die Kooperativen sattelten um von Landwirtschaft auf Hightech.



Auch Jiron ist heute kaum wiederzuerkennen: Der Kollektivismus von einst habe dem Wunsch nach mehr Individualität Platz gemacht, sagt Aschusch. Und wo früher Ställe standen, produziert heute ein Start-up-Unternehmen innovative Agrartechnik.



Israel ist führend bei Neuerungen, ob in der Biotechnologie oder bei der Wüstenbewässerung. Auch international ist israelisches Know-how nach Angaben des Präsidenten der französisch-israelischen Handelskammer, Daniel Ruach, gefragt, darunter "in großen multinationalen Unternehmen wie Intel oder Google".



Doch Wohlstand und Armut liegen in dem kleinen Land von der Größe Hessens nah beieinander. Auf der einen Seite gebe es das wohlhabende Zentrum des Landes um Tel Aviv mit schicken Villen und erfolgreichen Hightech-Firmen, sagt der Chef von Latet, der führenden israelischen Hilfsorganisation für Armutsbekämpfung und Nahrungsmittelhilfe, Gilles Darmon. Im Gegensatz dazu seien 9,7 Prozent der Familien "von Ernährungsunsicherheit betroffen" - und auf Suppenküchen und Lebensmittelpakete angewiesen.



Wie aus von Latet Ende 2022 veröffentlichten Zahlen hervorgeht, leben mehr als 27 Prozent der Israelis nahe der Armutsgrenze - die dritthöchste Armutsrate in Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hinter Costa Rica und Bulgarien. Dabei liegt Israel laut aktueller Statistik des Internationalen Währungsfonds (IWF) beim durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen seiner Mitgliedsländer an 14. Stelle - und damit vor Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien.



Israels Bevölkerung ist eine der am schnellsten wachsenden der Welt. Seit 1948 hat sich seine Einwohnerzahl verzwölffacht. Laut dem Zentralbüro für Statistik leben derzeit 9,7 Millionen Menschen in Israel. 7,1 Millionen von ihnen sind jüdische, zwei Millionen arabische Israelis. Hinzu kommen nichtjüdische Minderheiten.



Sein Bevölkerungswachstum verdankt Israel Neueinwanderern aus aller Welt, die meisten von ihnen aus der Ex-Sowjetunion, dem Irak, dem Jemen und Marokko. Nicht alle von ihnen sind gleichermaßen integriert.



Vor diesem Hintergrund fungiert die Armee hinsichtlich des gesellschaftlichen Zusammenhalts als wichtiges Bindeglied. Doch ein erheblicher Teil der Bürger ist von der Wehrpflicht befreit, darunter die arabische Minderheit und die meisten ultraorthodoxen Juden - was die gesellschaftliche Kluft weiter verschärft.



2015 wies der damalige Staatspräsident Reuven Rivlin auf unüberbrückbare Risse in der Gesellschaft hin, in der er "vier Gruppen" ausmachte: säkulare, nationalreligiöse und ultraorthodoxe Juden sowie die arabischen Staatsbürger. Keine von ihnen werde jemals die Welt der anderen betreten, sagte Rivlin damals in einer berühmten Rede. Jede von ihnen habe andere Visionen vom Staat.



Die tiefe soziale und gesellschaftliche Zerrissenheit spiegelt sich auch in der aktuellen innenpolitischen Krise wider. Sie wurde ausgelöst durch Pläne der rechtsreligiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zum Umbau der Justiz. Sie zielen darauf ab, die Gewaltenteilung zugunsten des Parlaments einzuschränken. Seit Januar gibt es beispiellose Proteste dagegen.



Aber auch Befürworter der Reform - viele von ihnen ultrarechte, sozial abgehängte oder von der alteingesessenen Politik-Elite lange diskriminierte Einwanderer - tragen ein neues Selbstbewusstsein zur Schau. Der Soziologe Aschusch beobachtet in diesen Milieus schon lange einen "Rechtsruck".



Dieser liegt ihm zufolge auch am festgefahrenen israelisch-palästinensische Friedensprozess. Dessen Scheitern in den 1990er Jahren und die darauffolgenden Selbstmordanschläge während der Zweiten Intifada, dem Palästinenser-Aufstand von 2000 bis 2005, hätten bei den Wählern "ihre Spuren hinterlassen". (AFP)