150 Jahre Gandhi: Wie Indien seinen Gründervater vergisst

Gewaltloser Widerstand, religiöser Friede und ein Wirtschaftsmodell, das mit der Natur im Einklang steht: Solche Werte propagierte Indiens Gründervater Mahatma Gandhi vor Jahrzehnten. Nun, 150 Jahre nach seiner Geburt, sehen sie viele dort in Gefahr. Von Anne-Sophie Galli

Seine letzten Schritte führten Mahatma Gandhi durch den üppigen tropischen Garten eines Freundes. Er wollte dort mit Menschen aller Kasten und Glaubensrichtungen beten. Doch dann kam sein Mörder, ein Hindu-Fanatiker. Er küsste Gandhis Füße und schoss ihm dann in die Brust. So starb der 78 Jahre alte Widerstandskämpfer, der die britischen Kolonialherren mit Märschen, Massenprotesten und Hungerstreiks ganz ohne Gewalt aus Indien vertrieben hatte.

Auch heute, mehr als 70 Jahre nach dem Tod des zerbrechlich aussehenden Mannes, der gewaltlose Widerstandsbewegungen auf der ganzen Welt geprägt hat, kommen noch Besucher in den Garten in der indischen Hauptstadt Neu Delhi. Meist seien es ausländische Touristen, sagt ein Mitarbeiter der Gedenkstätte, der seinen Namen nicht in den Medien lesen möchte. Gandhi, der vor 150 Jahren am 2. Oktober 1869 geboren wurde, werde von seinen eigenen Leuten vergessen, klagt er. Indien sei eine Konsumgesellschaft geworden, die keine Zeit mehr habe für den Mann, der etwa US-Bürgerrechtler Martin Luther King, den südafrikanischen Anti-Apartheid-Kämpfer Nelson Mandela und den Dalai Lama aus Tibet inspiriert hat.

Einige indische Besucher reisen jedoch quer durchs Land, um ihren Kindern den Ort zu zeigen - auch Informatiker Anand Jujaru aus Bangalore, dem indischen Silicon Valley. «Ich glaube, niemand erinnert sich mehr daran, welche Opfer er gebracht hat», sagte er.

Die Bedeutung Gandhis nehme in seinem Geburtsland zunehmend ab, sagen auch viele Intellektuelle, etwa der Soziologe Shiv Visvanathan von der Jindal Global Law School in der Nähe Neu Delhis. Gandhi habe das friedliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen propagiert, sagt er. Dem widersprächen aber die Pläne der hindu-nationalistischen Regierung des jetzigen Premierministers Narendra Modi.

Kürzlich etwa entzog er der mehrheitlich von Muslimen bewohnten Kaschmir-Region einen Sonderstatus und weitgehende Selbstverwaltungsrechte, um diese stärker in das mehrheitlich hinduistische Land zu integrieren. Um Proteste der dortigen Bevölkerung zu verhindern, stellte er Internet und Telefonnetze ab und schickte Zehntausende Soldaten in die Region. Zudem ließen einige Politiker der hindunationalistischen Partei Modis Statuen von Gandhis Mörder bauen. Ihnen missfiel Gandhis Nähe zu Muslimen, und sie sehen ihn in der Verantwortung für die Teilung des indischen Kolonialreichs in Indien und Pakistan.

Trotzdem - am Mittwoch wurde der 150. Jahrestag von Gandhis Geburt mit viel Pomp gefeiert. Der Mann ist irgendwie noch überall - er lächelt den 1,3 Milliarden Bürgern von jeder Banknote entgegen, viele Straßen sind nach ihm benannt und auch in kleinen Dörfern findet man viele Zeichnungen seiner bekannten runden Brille. Diese hatte er als Symbol seiner großen Kampagne zur Hygieneverbesserung gewählt - mit der er nach eigenen Angaben mehr als 90 Millionen Toiletten im Land installieren ließ.

«Indische Regierungen instrumentalisieren das Bild des Gründervaters, um ihre Kampagnen zu legitimieren», sagt der Soziologe Visvanathan heute. Und für den Direktor des Gandhi-Museums in Delhi, Alagan Annamalai, ist klar: «Regierungen können Gandhi lieben oder hassen, aber sie können ihn nicht ignorieren.»

Doch Annamalai sagt auch, dass Gandhi vielen jungen Indern gleichgültig sei. «Ich treffe viele Schulklassen. Und die meinen, er sei gegen die moderne Entwicklung und immer nur weiß gekleidet.»

Gandhi setzte sich im vorindustriellen Indien für ein dezentralisiertes, selbstversorgendes Entwicklungsmodell ein. Auch viele Menschen, die der tiefsten Kaste angehören und nach wie vor benachteiligt werden - früher Unberührbare genannt - lehnen Gandhi ab. Denn Gandhi setzte sich zwar auch für ihre Rechte ein, lehnte das Kastensystem aber nicht grundsätzlich ab.

Dennoch - mehrere hundert Anhänger Gandhis kämpfen auch heute noch gewaltlos wie ihr Vorbild. Sie marschieren, fasten tagelang oder stehen bis zum Bauch im Wasser für einen sauberen Ganges, für Menschen, die wegen großer Infrastrukturprojekte ihr Haus verlieren oder gegen Korruption. Sie und auch andere Sympathisanten Gandhis finden, dass der Widerstandskämpfer heute so relevant ist wie damals.

Gandhis Enkel, der Historiker Rajmohan Gandhi, schrieb kürzlich im Magazin «India Today»: «In unserer post-wahren Welt, wo ein Donald Trump die Schlagzeilen dominiert, bedrohte Minderheiten schlecht behandelt werden und Bedrohungen des Planeten ignoriert werden, kommt ein Gandhi, der schon mehr als 70 Jahre tot ist, als beruhigendes Symbol, als Verteidiger der Rechte von Minderheiten und unseres Planeten.» (dpa)