Die nächste Generation Terror?

Zahlreiche einstige Nachwuchskämpfer des IS sitzen heute in irakischen Gefängnissen lange Haftstrafen ab. Dort radikalisieren sie sich weiter. Die niederländische Autorin und Journalistin Judit Neurink hat eine Jugendhaftanstalt in Erbil besucht.

Von Judit Neurink

"Ich habe keine Ahnung, wie viele Hashd ich getötet habe", berichtet der 18-jährige Khayralah Mezadivan über die Zeit, als er im Irak für die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) gegen die schiitischen Paramilitärs der "Hashd al-Shaabi" kämpfte.

Khayralah sitzt an einem Tisch in der Bibliothek des Jugendgefängnisses in der kurdischen Hauptstadt Erbil, wo er eine neunmonatige Haft absitzt. So wie rund hundert weitere arabische Jugendliche, die von Peschmerga-Einheiten als IS-Anhänger festgesetzt wurden. Viele hatten geleugnet vom IS ausgebildet und eingesetzt worden zu sein.

Nicht so Khayralah. Er gab offen zu, nicht nur für die Polizei des IS gearbeitet, sondern auch direkt an der Front gekämpft zu haben. Nun trägt er sein langes Haar eng zusammengebunden unter schwarzer Kleidung und seine Hose oberhalb der Knöchel. Ganz so, wie es der IS von Männern verlangt.

Khayralah war eine der Nachwuchshoffnungen des vom IS ausgerufenen "Kalifats", eines der "jungen Talente", in denen der IS seine Zukunft sah. Warum folgte er mit 14 Jahren in Mossul dem Ruf des IS? "Ich mochte, wie sie den Koran erklären", sagt er. Außerdem sei die Lage schlecht gewesen: "Es gab keine Arbeit, kein Wasser, keine Elektrizität", so Khayralah rückblickend und ergänzt: "Sie haben mir aber auch Strafen angedroht, falls ich mich ihnen nicht anschlösse." Das Gefängnispersonal sieht in Khayralah weiterhin eine Gefahr, denn "der IS fasziniert den 18-Jährigen noch immer", heißt es.

In den drei Jahren Krieg gegen den "Islamischen Staat" wurden rund 20.000 Männer und Jugendliche wegen Verbindungen zu der Terrorgruppe verhaftet und in kurdischen oder irakischen Gefängnissen inhaftiert. Wie viele Minderjährige darunter sind, ist nicht ganz klar, die Statistiken sind unvollständig. Gefängnisbesuche von Journalisten und Beobachtern sind selten und Kameras, Handys oder Aufnahmegeräte gänzlich verboten.

Ex-IS-Kämpfer: "Wir waren unterwegs in den Himmel"

Eingang des Jugend-Gefängnisses in Erbil; Foto: Judit Neurink
Iraks Jugendgefängnisse als Brutstätten der Radikalisierung? Im irakischen Kurdengebiet sitzen mehr als hundert Minderjährige in Gefängnissen. Im März 2017 befragte die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" (HRW) 150 inhaftierte Unter-Achtzehnjährige. Inzwischen dürfte diese Zahl vermutlich höher liegen, da der Krieg erst drei Monate später endete. In vielen Fällen sind die Gefängnisse überfüllt, so dass es unvermeidlich ist, dass islamistische Hardliner miteinander in Kontakt kommen und sich weiter radikalisieren.

Soviel ist klar: Im irakischen Kurdengebiet sitzen mehr als hundert Minderjährige in Gefängnissen. Im März 2017 befragte die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" (HRW) 150 inhaftierte Unter-Achtzehnjährige. Inzwischen dürfte diese Zahl vermutlich höher liegen, da der Krieg erst drei Monate später endete. Unlängst berichtete das HRW, dass irakische Richter zwischen vier- bis fünfhundert Minderjährige zu teilweise langen Gefängnisstrafen verurteilt hatten, darunter auch Ausländer. 

Die Schnellprozesse irakischer Gerichte gegen ausländische IS-Kämpfer, stießen bislang auf großes mediales Interesse. Nicht so sehr die Verfahren gegen einheimische Jugendliche, die sich im IS-Netz verfangen hatten. Die Überlebenden und später Gefassten unter ihnen ließen sich in drei Kategorien unterteilen, erzählt der Gefängnis-Sozialarbeiter Jwanro Majid: Zum einen gab es solche, die wegen Geld, Waffen oder Autos mit dem IS zu tun hatten. Dann jene, die eine Grundausbildung des IS durchlaufen haben.

Und schließlich seien da noch die ehemaligen Kämpfer. Zu dieser letzten, zahlenmäßig kleinsten Kategorie gehört Khayralah Mezadivan. Auf die Frage, was denn angeblich so gut am IS gewesen sei, antwortet er:" Wir waren auf dem Weg in den Himmel, wo wir Frauen bekommen hätten, ja, sogar Freunde des Propheten Mohammed geworden wären."

Damals habe er das geglaubt, erzählt Khayralah. "Jetzt denke ich, dass es nur Märchen sind." Er bedauere, so viele Menschen im Kampf getötet zu haben, sagt er. Seine Kleidung und Gestik sagen etwas anderes. Da ist diese Art, mit der er immer wieder Koranverse einfließen lässt. Und dann verteidigt er plötzlich vehement den IS. Nichts sei dran an der Behauptung, die Kämpfer hätten mit Hilfe von Drogen ihre Angst unterdrückt: "So waren wir nicht, das sind nichts als Geschichten", sagt er. Schließlich lehre der Koran, wer die Angst nicht spüre, sei dumm.

Dschihadistische Traumdeutung

Auch das Buch, das er sich in dieser Woche in der Bücherei ausgeliehen hat, verdeutlicht, wie nahe er dem IS noch steht. "Ich träume viel", sagt er. "Also habe ich mir ein Buch ausgeliehen, das Träume erklärt." Radikalislamische Gruppen wie Al-Qaida oder der IS sehen in der Traumdeutung ein bedeutsames prophetisches Potenzial.

Unverändert geblieben ist auch Khayralahs feindliche Haltung gegenüber den Schiiten-Milizen, gegen die er gekämpft hatte. Wegen ihnen wolle er nach seiner Freilassung nicht zurück nach Mossul: "Die Stadt ist noch in der Hand der Hashd", sagt er, und fügt an:" Das sind alles Verbrecher."

Seiner Familie in Mossul gehe es gut, sagt Khayralah auf Nachfrage. Unerwähnt lässt er dabei, dass seine Familie ihn wahrscheinlich nicht wieder aufnehmen wird - aus Angst, die ganze Familie könne wegen seiner IS-Verbindungen aus der Gemeinde verstoßen werden.

Von kurdischen Peschmerga-Einheiten festgesetzte IS-Kämpfer bei Kirkuk im Oktober 2017; Foto: Reuters
Militärisch besiegt, aber noch immer aktiv: Zellen der IS-Dschihadisten sind im Irak weiterhin präsent, vor allem im Norden und Westen des Landes. In den Gefängnissen führen Entradikalisierungsprogramme nur in wenigen Fällen zum Erfolg, da die Haftanstalten überfüllt sind und viele ehemalige IS-Kämpfer miteinander in engem Kontakt stehen.

Unerwähnt bleibt auch ein weiterer schwerwiegender Grund, weshalb er seine Rückkehr scheut. Er würde wohl erneut umgehend verhaftet werden. Und dann droht ihm die Todesstrafe. Denn die Führung in Bagdad erkennt die Urteile kurdischer Gefängnis-Gerichte nicht an – und verhängt ausnahmslos die Todesstrafe gegen ehemalige IS-Kämpfer.

Tatsächlich ist die neunmonatige Haftstrafe recht mild angesichts der begangenen Taten, verglichen etwa mit sechsmonatigen Haftstrafen anderer Jugendlicher, die nur IS-Trainings in Moscheen beigewohnt haben. Khayralah Mezadivan grinst und sagt, er habe eben nur die Fragen des Richters beantwortet.

Kein Respekt gegenüber Nicht-Muslimen 

Sozialarbeiter Majid fühlt sich angesichts solcher Inhaftierter wie Khayralah machtlos. Sie seien schwierige Insassen, berichtet er. Zum einen, weil ihnen das Gefängnis nach den Härten der Front wie ein Hotel erscheine. Zum anderen habe der IS sie angehalten, sich gegenseitig zu bespitzeln. Und jeder von ihnen sorge sich um "sein" Paradies, erläutert Majid. "Der IS hat den Verstand dieser jungen Leute deformiert."

Auch gegenüber dem Gefängnispersonal, den Wachen oder den Sozialarbeitern zeigten diese Inhaftierten keinerlei Respekt. "Für sie sind wir Ungläubige. 'Ihr seid keine Muslime', sagen sie uns." Aus Sicht dieser Jugendlichen werde sich die Welt erst dann zum Guten wenden, wenn sie zu "wahren Muslimen" werden.

Sozialarbeiter Majid und seine Kollegen versuchen, die Jugendlichen von weiteren Radikalisierungstendenzen fernzuhalten. Es gebe Kurse, Computer, Bücher und Fußball, berichtet Majid. "Wir sorgen dafür, dass sie beschäftigt sind". Auch gibt es Diskussionsveranstaltungen mit ausgesuchten jungen Imamen. "Die scheinen die Jungs besser zu erreichen. Wir wollen hier aber keine alten Sheikhs mit überkommenen Ideen", so Majid. Zum Gefängnisangebot gehört ebenso Musik. Die war beim IS verboten. "Doch wir mussten feststellen, dass einer unserer Musiker, der hier Klavier und Gitarre unterrichtet, doch erstaunlich beliebt bei den Jungs hier ist", berichtet Majid.

UNICEF und andere internationale Hilfsorganisationen haben Majid und seine Kollegen in Methoden der Entradikalisierung ausgebildet. Doch die Arbeitsbedingungen sind problematisch. Das Gefängnis ist überbelegt. Und so ist es wohl unvermeidlich, dass islamistische Hardliner miteinander in Kontakt kommen und sich weiter radikalisieren. Eine gefährliche Konstellation. Schließlich schlug die Geburtsstunde des IS in einem irakischen Gefängnis.

Gefragt nach den Perspektiven für jugendliche IS-Insassen wie Khayralah, gibt sich Majid denn auch pessimistisch: "Wir befürchten, dass sie nach ihrer Haftzeit zum Islamischen Staat zurückkehren. Selbst nach zehn Jahren Gefängnis."

Judit Neurink

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