Ramadan: Zwischen Fasten, Frömmigkeit, Feiern und Politik

Worauf kommt es beim Fasten im Ramadan wirklich an? Entscheidend ist nicht allein die Abstinenz von körperlichen Bedürfnissen, sondern vor allem die kritische Selbstreflexion der Muslime, meint der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide.

Essay von Mouhanad Khorchide

Wieso verlangt eigentlich ein Gott, der den Menschen mit körperlichen Bedürfnissen erschaffen hat, dass er diese Bedürfnisse für einen ganzen Monat auf Sparflamme herunterdreht? Was hat Gott davon und was hat der Mensch davon?

Der Koran bringt das Gebot zum Fasten in Zusammenhang mit der Frömmigkeit: "Ihr Gläubigen! Euch wurde das Fasten vorgeschrieben, wie es den Menschen vor euch vorgeschrieben war, damit ihr fromm werdet" (Koran 2:183). Man fragt sich dennoch, wieso soll das Unterdrücken einiger körperlicher Bedürfnisse zur Frömmigkeit führen?

Der Prophet Muhammad sagte "Frömmigkeit ist hier" und zeigte dabei auf sein Herz; dies wiederholte er drei Mal (überliefert nach Ahmad, Hadith-Nr. 16208). Das Herz muss also erst vom Fasten betroffen sein, damit dieses einen Beitrag zur Frömmigkeit leisten kann.

Zeit der Besinnung und Selbstreflexion

Beim Gebot des Fastens geht es Gott keineswegs nur darum, dass der Mensch lediglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang einfach nichts isst, trinkt und sich des Geschlechtsverkehrs enthält. Vielmehr soll sich dem Menschen durch diese Enthaltung die Möglichkeit eröffnen, sich mit seinem Inneren auseinanderzusetzen sowie über seine Beziehung zu Gott, zu dessen Schöpfung und zu sich selbst kritisch zu reflektieren.

Bulgarische Muslime beten in einer Moschee in Sofia; Foto: © Nikolay Doychinov/AFP/Getty Images
Laut Mouhanad Khorchide soll der Ramadan nicht einfach nur eine Zeit des körperlichen Fastens sein. Das sei lediglich Voraussetzung für das wahre Fasten, nämlich das des Herzens. Somit ist der Ramadan eine Zeit der Selbstreflexion, in der man sich kritisch mit sich und seinem Verhalten auseinandersetzt.

Ziel des Fastens ist also nicht die Distanzierung von den körperlichen Bedürfnissen; das ist lediglich der erste Schritt auf dem Weg zum eigentlichen Fasten: dem Fasten des Herzens.

Der bekannte muslimische Gelehrte al-Ghazālī (1055-1111) unterscheidet daher zwischen dem Fasten der Laien (arabisch: Awām), dem Fasten der Besonderen bzw. der Auserwählten (arabisch: Chawās) und dem Fasten der Besonderen unter den Besonderen bzw. der Auserwählten unter den Auserwählten (arabisch: Achass al-Chawās). Das Fasten der Laien beschränkt sich auf äußere Aspekte: Das heißt, nicht zu essen, zu trinken und keinen Geschlechtsverkehr zu haben.

Das Fasten der Auserwählten ist darüber hinaus ein Fasten der Ohren, der Augen, der Zunge, der Hand, des Fußes und anderer Organe vor der Sünde. Das Fasten der Auserwählten unter den Auserwählten ist über diese Stufen des Fastens hinaus, das eigentlich Anzustrebende: das Fasten des Herzens.

Dies geschieht, wenn das Herz an Gott gebunden ist, von göttlicher Liebe und Barmherzigkeit ergriffen und erfüllt ist. Das Herz ist dann frei von allen negativen Emotionen, wie Hass, Neid, Gier, Hochmut usw., es erkennt das Gute in den Dingen und ist immer im Einsatz für das Gute.

Das Fasten der Auserwählten

Die Distanz zu seinen körperlichen Bedürfnissen ist nur die erste Etappe des Fastens, um die Reise in die Tiefen seines "Ichs" anzutreten. Mit dem Fasten der Auserwählten, wie Ghazālī es nennt, ist konkret gemeint "das Zügeln der Zunge vor Gerede, Lügen, übler Nachrede, Verleumdung, Schimpfen, Streit und Einschmeicheln".

Er zitiert den Propheten: "Fünf Dinge machen das Fasten ungültig: Lügen, üble Nachrede, Verleumdung, falsche Zeugenschaft und der lüsterne Blick zu einer fremden Person". Al-Ghazālī zählt zum Fasten der Auserwählten dann weiter: das Zügeln der Ohren vor dem Vernehmen übler Nachrede bzw. Verleumdung und zitiert den prophetischen Ausspruch: "Derjenige, der üble Nachrede betreibt und der Zuhörer, beide sind Partner in der Sünde."

Al-Ghazālī spricht auch vom Fasten der Hände und Füße vor Übergriffen. Er kritisiert weiter, "dass bestimmte Speisen nur im Ramadan zubereitet und gegessen werden, wobei Sinn des Fastens ist, durch das Hungern und Dursten, das Ego auf den Boden zu bringen (…). Daher sollte man am Abend nur sein gewohntes Abendessen zu sich nehmen, ohne dass man das, was man tagsüber versäumt hat, nachholt."

Afghanische Süßwarenhersteller bereiten Iftargebäck vor; Foto: © Majid Saeedi/Getty Images
Afghanische Zuckerbäcker stellen eine traditionelle Ramadanspeise her: Schon der mittelalterliche muslimische Gelehrte al-Ghazali kritisierte die Praxis, für den Ramadan besondere Gerichte zuzubereiten. Vielmehr solle man abends nur ein normales Mahl zu sich nehmen.

Ohne diese Aspekte des Fastens zu berücksichtigen, ist das Fasten lediglich eine körperliche Betätigung, von der niemand etwas hat, daher zitiert al-Ghazālī den Ausspruch des Propheten: "So viele Fastende haben nichts von ihrem Fasten außer Hunger und Durst."

Verpflichtung zum Guten aus dem Inneren

Der Prophet Muhammad sagte: "Wenn der Fastende Lügen, unaufrichtiges oder unverantwortliches Handeln nicht unterlässt, verlangt Gott nicht von ihm, dass er auf sein Essen und Trinken [beim Fasten] verzichtet." Letztendlich will der Islam, dass die Verpflichtung zum Guten keine äußerliche Pflicht mehr ist, sondern aus dem Inneren des Menschen kommt, also eine Selbstverpflichtung ist. Der Wächter muss im Herzen sein: "Nicht ein Wort sagt der Mensch, ohne dass neben ihm ein Wächter wäre" (Koran 50:18).

Wer das Fasten auf eine körperliche Enthaltung reduziert, ist wie derjenige, der das Beten auf eine körperliche Betätigung reduziert. Viele Muslime argumentieren damit, dass das Fasten Verständnis für die Armen lehren soll, die wenig zu essen und zu trinken haben. Das stimmt nur bedingt, denn das Fastengebot gilt auch für arme Menschen. Armut befreit nicht vom Gebot des Fastens. Jedes Herz bedarf der Läuterung durch Selbstkritik und Selbstreflexion.

Frömmigkeit ist also kein theoretisches Konzept, sondern eine gelebte Tugend. Und genau hier liegt ein Ziel des Fastens. Mit anderen Worten: Es geht um die Vervollkommnung des Menschen. Und diese Vollkommenheit ist ein paradiesischer Zustand, den der Mensch hier und jetzt auf Erden erlangen kann und soll. Das Hintenanstellen körperlicher materieller Bedürfnisse soll andere Aspekte und Werte im Leben ins Bewusstsein rufen.

Feierlicher Anlass?

In den meisten islamischen Ländern wird heute die Fastenzeit als Anlass zum Feiern genutzt. Spezielle Speisen werden nur im Ramadan aufwendig zubereitet. Fernsehsender produzieren für den Ramadan Spezialprogramme und konkurrieren stark miteinander, wer die besten Filme und Serien zeigt, um die Menschen, die bis spät in die Nacht wach bleiben, zu locken.

Prof. Dr. Mouhanad Khorchide. Foto: Ulrike Hummel
„Der Ramadan darf nicht als politischer Anlass genutzt werden, um Machtkämpfe im Namen des Islam zu unterstützen und somit eine Aushöhlung des Fastens zu betreiben“, mein Mouhanad Khorchide.

Ich stehe dieser Deutung der Fastenzeit skeptisch gegenüber. Denn dadurch geht die ursprüngliche Intention des Fastens, die Erlangung von Frömmigkeit, verloren. Das Fasten wird zu einem Warten auf den Sonnenuntergang, um schließlich die Feierlichkeiten zu begehen.

Nicht selten wird der Tag zur Nacht und die Nacht zum Tag gemacht. Und so wird oft am Tag geschlafen und die Nacht "durchgefeiert". Das Fasten wird dadurch ausgehöhlt. An die Stelle des kritischen Reflektierens über sich und sein Leben tritt ein verschwenderischer Lebensstil, der den Menschen trotz Fastens, bzw. in diesem Fall gerade wegen dieser Form des Fastens, nur von sich selbst und von Gott entfernt.

Politischer Anlass?

Der diesjährige Ramadan ist für viele Menschen in der arabischen Welt anders. In Syrien herrscht nach wie vor eine dramatische Lage; jeden Tag sterben dort unschuldige Menschen. In Tunesien und Libyen ist die politische Lage immer noch gespannt. In Ägypten haben die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern der Muslimbrüderschaft ihren bisherigen Höhepunkt erreicht.

Dennoch darf der Ramadan nicht als politischer Anlass genutzt werden, um Machtkämpfe im Namen des Islams zu unterstützen und somit eine Aushöhlung des Fastens zu betreiben. Viele haben gehofft, dass der Ramadan, gerade in Ägypten, Anlass geben wird, selbstlos und im Sinne des Friedens Kompromisse einzugehen und Machtkämpfe zu beenden.

Die Realität zeigt jedoch, dass trotz des Ramadans kaum Spuren von Besonnenheit bei den Konfliktparteien zu sehen sind. Die Frömmigkeit als Ziel des Fastens scheint sich noch nicht im Bewusstsein einiger Muslime eingefunden zu haben.

Mouhanad Khorchide

© Qantara.de 2013

Dr. Mouhanad Khorchide studierte Islamische Theologie und Soziologie in Beirut und Wien, wo er mit einer Studie über islamische Religionslehrer promovierte. Seit 2010 ist er Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster.