Über den Tigris nach Galiläa

Die Juden im Irak bildeten einst die älteste jüdische Diaspora. 1950/51 wanderten die meisten von ihnen nach Israel aus. Was unmittelbar davor lag, beschreibt Sasson Somekh in seinem Buch "Baghdad, Yesterday - The Making of an Arab Jew". Von Beate Hinrichs

Die Juden im Irak bildeten einst die älteste jüdische Diaspora, deren Geschichte über 2.500 Jahre zurück reichte. Was unmittelbar davor lag, die dreißiger und vierziger Jahre in Bagdad, beschreibt Sasson Somekh in seinem Buch "Baghdad, Yesterday - The Making of An Arab Jew". Beate Hinrichs hat es gelesen.

Sasson Somekh; Foto: Vanderbilt University Daniel Dubois
Sasson Somekh, Professor an der Tel Aviv Universität, gehört zur letzten Generation irakischer Juden, die Seite an Seite mit Irakern anderer Religion lebte

​​1950/51 wanderten die meisten irakischen Juden nach Israel aus - 120.000 von 140.000 Menschen. Die irakische Regierung gewährte ihren jüdischen Bürgern die Ausreise - wenn sie dafür ihre irakische Staatsbürgerschaft und ihre Vermögen hinter sich ließen. Die israelische Regierung organisierte für den Exodus eine Luftbrücke, die "Operation Ezra und Nehemiah".

Es ist eine vergangene Welt, von der Sasson Somekh erzählt - aber auch eine, die man so gerne erhalten hätte! Dabei ist bei weitem nicht alles eitel Sonnenschein, was der Autor schildert; auch ist er weder sentimental noch nostalgisch. Er beschreibt lediglich die Erlebnisse und Erfahrungen seiner Jugend, mit den Augen eines Heranwachsenden, aus der Perspektive des in die Jahre Gekommenen.

Sasson Somekh wurde 1933 in Bagdad geboren, als mittleres von drei Kindern einer irakisch-jüdischen Mittelklassefamilie. 1951 emigrierte er nach Israel.

Goldenes Zeitalter der Wirtschaft und Bildung

Im frühen 20. Jahrhundert waren rund ein Drittel der Bagdader Bevölkerung Juden. Vor allem die Angehörigen der Mittelklasse erlebten in dieser Zeit umwälzende Veränderungen: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und des Osmanischen Reiches entwickelte die junge Generation eine säkulare irakisch-jüdische Identität. Auf weltlich orientierten Schulen lernten die Schüler fließend Englisch und Französisch.

Viele Juden arbeiteten für britische Firmen oder brachten es mit eigenen Unternehmen zu Wohlstand und Ansehen. Nur eine Minderheit sympathisierte mit dem Zionismus; aber viele waren in der Kommunistischen Partei engagiert.

​​Jüdische Intellektuelle waren auch ein aktiver Teil des irakischen Kulturlebens; manche schrieben arabische Prosa und Gedichte - so auch Sasson Somekh, der später in Israel den Fachbereich für Arabische Sprache und Literatur an der Universität Tel Aviv gründen sollte.

Untereinander sprachen Bagdads Juden einen arabischen Dialekt, der sich von dem muslimischer oder christlicher Iraker unterschied, weil er durch hebräische und aramäische Ausdrücke ergänzt wurde. Das Judäo-Arabische war eine authentische arabische Mundart, wurde von der älteren Generation aber mit hebräischen Buchstaben geschrieben.

Obgleich die Bagdader Juden im Juni 1941 ein brutales Pogrom (die Farhud) erleben und Hunderte Toten beklagen mussten, fühlten sie sich insgesamt bis Ende der vierziger Jahre weitgehend respektiert und integriert, schreibt Sasson Somekh - "eine Art Goldenes Zeitalter, sowohl für die Wirtschaft als auch für die Bildung".

Multikulturelles Mit- und Füreinander

Sasson Somekh erzählt mit großer Wertschätzung von seiner Jugend in dieser Zeit. In vielen Geschichten und Details, warmherzig und mit leisem Humor, schildert er seinen Alltag und zeichnet die Lebenswege von Verwandten, Freunden und Bekannten nach.

Da sind zum Beispiel die Spielkameraden, mit denen der junge Sasson unbeschwerte Tage auf den Inseln im Tigris verbringt: die Brüder Sa'achi. Nachdem die Familie nach London emigriert war, gründeten diese Söhne "Saatchi & Saatchi", eine mittlerweile weltweit operierende Werbeagentur.

Was in "Baghdad, yesterday" besonders besticht, ist das multikulturelle und multiethnische Miteinander.

Da ist der libanesische Schiit, der an der jüdischen Oberschule in Bagdad arabische Literatur unterrichtet und den Schülern marxistisches Gedankengut vermittelt. Er wurde zum literarischen Mentor des Autors.

​​Da sind die Bagdader Juden, deren Vorfahren Mitte des 19. Jahrhunderts aus Wien eingewandert sind - die Bagdad Rosenfelds, denen man ihre österreichische Herkunft nicht mehr anmerkte.

Oder jene, die schon im 18. Jahrhundert nach Indien oder Singapur ausgewandert waren, dort "Bagdader Gemeinschaften" gegründet und kleine Handelsimperien aufgebaut hatten - die "Rotschilds des Ostens". Ende des 19. Jahrhunderts schickten sie Angehörige in britische Städte wie London oder Manchester, wo beispielsweise etliche Mitglieder der Familie Sasson zu Amt und Würden kamen.

Starke emotionale Bindungen an die alte Heimat

Sasson Somekh schreibt über Migration - aber eben auch über Exil. Immer wieder forscht er nach den Lebenswegen von Freunden und Bekannten, die er aus den Augen verloren hat, und versucht, lose Ende zusammenzuknüpfen.

Aber viele Geschichten brechen ab - das ist der Bruch durch das erzwungene Exil und die Auswanderung in die neue Heimat Israel. Ende der vierziger Jahre, nach der Teilung Palästinas, dem israelisch-arabischen Krieg von 1948/49 und mehreren Bombenattentaten auf jüdische Einrichtungen in Bagdad erschien vielen die Emigration zwingend.

Andere irakisch-jüdische Autoren und Zeitgenossen von Sasson Somekh haben ihre Bagdader Jahre belletristisch verarbeitet, wie Eli Amir oder Sami Michael. Manches ist dort weniger harmonisch, aber auch sie schildern eine Gesellschaft, in der multikulturelles Miteinander normal ist. Und sicher würden sie das Fazit unterschreiben, dessentwegen Somekh seine Erinnerungen aufgeschrieben hat:

"Ich gehöre zur letzten Generation irakischer Juden, die Seite an Seite mit Irakern anderer Religion lebte, eine gemeinsame Sprache sprach und sich aktiv in irakische Kultur einbrachte."

Beate Hinrichs

© Qantara 2007

Sasson Somekh: Baghdad Yesterday - The Making of an Arab Jew, Jerusalem: Ibis Editions, 2007. 189 Seiten. Broschiert. 16,95 U.S. Dollar

Qantara.de

"Forget Baghdad"
Irakische Juden in Israel
Vier in Israel lebende irakische Juden läßt der in der Schweiz lebende Filmemacher Samir in seinem Dokumentarfilm "Forget Baghdad" zu Wort kommen. Sie beschreiben den schwierigen Prozess der Integration in ihrer neuen Heimat und die Entfremdung von ihrer alten. Zurzeit läuft der Film in bundesdeutschen Kinos. Silke Bartlick berichtet.